Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Hauses gelegen, ging ihr Fenster auf den Garten, die mit Heidekraut bewachsene Hügellandschaft und die äußere Biegung der Bucht hinaus. Als sie auf der Türschwelle stand, holte sie tief Luft. Dann setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie benutzte ihre Füße, um zu gehen, doch in Gedanken flog sie dahin, getragen von unsichtbaren Schwingen, hart und durchsichtig und unzerstörbar wie die Flügel der Zikade, die sie letzten Sommer im Garten gefunden hatte. Während sie ihr Zimmer im Kreis durchschritt, berührte sie alle möglichen Dinge – den Bettpfosten aus Ahorn, den Schreibtisch, von ihrer Mutter mit Fischen, Muscheln, Walen und Delfinen bemalt, die Bücher in ihrem Regal, die Sammlung geschnitzter Wale. An dieser Stelle verweilte sie und vergewisserte sich, dass ihre Fingerspitzen jeden einzelnen streiften – Wale aus Holz, Seifenstein oder Knochen.
Sie spürte die Macht der Wale. Es waren Säugetiere, genau wie sie. Sie atmeten Luft und zogen ihre Jungen groß. Nun verwandelten sich Roses Schwingen in Flossen. Sie tauchte ins Meer ein, schwamm mit den Walen, war ganz in ihrem Element. Sie spürte, wie das Wasser über ihren Körper strömte, als sie hinunterschwamm, tiefer und tiefer … Sie berührte alles in ihrem Zimmer, die vielen kostbaren Gegenstände, die sie an ihr Leben, an ihre Mutter erinnerten.
Als sie die Wand neben ihrem Bett erreicht hatte, waren ihre Augen voller Tränen. Sie blinzelte sie weg und betrachtete die acht gerahmten Geburtstags-Stickbilder. Ihre Mutter hatte sie gemacht, für jedes Lebensjahr eines.
Auf dem ersten war ein ländliches Cottage zu sehen; es hatte eine schwarze Eingangstür, rosafarbene Fensterläden mit vier ausgeschnittenen Herzen und einen Garten voller Lilien und Rosen.
Auf dem zweiten war ein weißer Babykorb zu erkennen, der von einem rot-gelben Heißluftballon über eine grüne Landschaft getragen wurde.
Auf dem dritten stand ein blauer Kombi zwischen schneebeladenen Kiefern; in den dunklen Zweigen verbargen sich vier Eulen mit goldenen Augen.
Das vierte zeigte ein Karussell, mit Walen statt Pferden bestückt.
Auf dem fünften war ein fliegender Fisch und unter Wasser schwimmende Vögel zu sehen.
Auf dem sechsten war die Fichte im Garten hinter ihrem Haus bei Dunkelheit abgebildet, weihnachtlich geschmückt, mit Herzen statt Weihnachtskugeln und echten Sternen statt Lichterketten.
Auf dem siebten war das gleiche Cottage wie auf dem ersten Stickbild zu sehen, geschrumpft auf die Größe eines Puppenhauses, mit einer blauen statt einer schwarzen Tür und einem Heißluftballon, der es hoch in die Lüfte hob und aufs Meer hinaustrug.
Auf dem achten befand sich eine Gruppe von Mädchen und Frauen, die Mützen und dicke Mäntel trugen und ihre Hände an einem Feuer unweit der verschneiten Felsenküste wärmten, während ein weißer Wal im Vordergrund seine Possen trieb. Da waren sie selbst und ihre Mutter, Cindy, Marlena, Nanny und sämtliche Nanouks des Frostigen Nordens. Rose erkannte alle Frauen, bis auf zwei, die sich an der Seite befanden … Ihre Mutter hatte ihr erzählt, das seien ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter.
Das neunte … Ihre Mutter war gerade dabei, es zu sticken. Rose schloss die Augen, äußerte lautlos einen Wunsch … Sie begriff, dass ihre Mutter sie schrecklich liebhatte. Obwohl noch nicht ganz neun, spürte sie, wie groß diese Liebe war – so groß, dass es bisweilen schmerzte. Da sie ein schwaches Herz hatte, spürte sie bestimmte Dinge oft deutlicher als jemand, der gesund war. Dann prickelte ihre Haut, als hätte ein kühler Wind eingesetzt, und sie war erfüllt von den Träumen und Worten anderer Menschen, als wenn deren Herzen direkt zu ihrem gesprochen hätten.
Nicht immer, aber manchmal. Bei Nanny beispielsweise. Rose war von jeher in der Lage gewesen, Nannys Gedanken zu lesen. Sie spürte die Freude und Neugierde, die Macht und Stärke des weißen Wals. Und bei ihrer Mutter. Rose wusste immer, wann sie glücklich oder traurig, erschöpft oder besorgt war – besorgt um Rose. Wie jetzt, während sie auf die Operation warten und die Reise nach Boston planen mussten – das war so ungefähr das Einzige, woran ihre Mutter im Augenblick denken konnte, obwohl sie das Geburtstagsbild zu Ende sticken und die Party vorbereiten musste. Aber Rose dachte an keines von beiden, ja nicht einmal an Jessica, ihre Herzensfreundin, die aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie sie.
Sie dachte an Dr. Neill. Ihre
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