Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolken über Ebou

Wolken über Ebou

Titel: Wolken über Ebou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jordan
Vom Netzwerk:
knarrte. »Aber warum? Warum wurde er getötet? Was hätte er mir erzählen können?«
    Min versuchte nachzudenken. Sie dachte wahrhaftig nach. Meister Fei war ein Philosoph gewesen. Er und Rand hatten - angefangen von der Bedeutung der Prophezeiung des Drachen bis zur Beschaffenheit der Öffnung im Gefängnis des Dunklen Königs - über alles diskutiert. Er ließ Min Bücher ausleihen, faszinierende Bücher, besonders wenn sie ihre Bedeutung mühsam herausfinden mußte. Er war ein Philosoph gewesen. Er würde ihr niemals wieder ein Buch ausleihen. Solch ein freundlicher alter Mann, in eine Welt der Gedanken eingehüllt und erschreckt, wenn er etwas außerhalb dieser Welt wahrnahm. Sie hütete eine Notiz, die er für Rand geschrieben hatte. Er hatte gesagt, Min sei hübsch, und sie verwirre ihn. Und jetzt war er tot. Licht, sie hatte schon zu viele Tode erlebt.
    »Ich hätte es dir nicht sagen sollen, nicht so.«
    Sie zuckte zusammen. Sie hatte nicht gehört, daß Rand den Raum durchquert hatte. Seine Finger streichelten ihre Wange. Wischten Tränen fort. Sie weinte.
    »Es tut mir leid, Min«, sagte er sanft. »Ich bin kein sehr netter Mensch mehr. Ein Mann ist für mich gestorben, und alles, was ich tun kann, ist, mir Gedanken darüber zu machen, warum er getötet wurde.«
    Sie warf die Arme um ihn und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Sie konnte nicht aufhören zu zittern. »Ich bin zu Colavaeres Räumen gegangen.« Bilder flammten in ihrem Kopf auf.
    Das leere Wohnzimmer, alle Diener fort. Das Schlafzimmer. Sie wollte sich nicht erinnern, aber jetzt, wo sie damit begonnen hatte, konnte sie die hervorsprudelnden Worte nicht mehr aufhalten. »Ich dachte, da du jetzt hier im Exil bist, gäbe es vielleicht einen Weg, die Vision zu verhindern, die ich von ihr hatte.« Colavaere hatte offensichtlich ihr bestes Gewand getragen, dunkle, glänzende Seide mit edler, vom Alter elfenbeinfarbener Sovarra-Spitze verziert.
    »Ich dachte, einmal müßte es nicht so sein. Du bist ein Ta'veren. Du kannst das Muster ändern.« Colavaere hatte eine Halskette und Armbänder aus Smaragden und Feuertropfen angelegt und Ringe mit Perlen und Rubinen, gewiß ihre besten Juwelen, und gelbe Diamanten hatten ihr Haar geschmückt, eine hübsche Nachahmung der Krone von Cairhien. Ihr Gesicht... »Sie war in ihrem Schlafzimmer. Hing von einem der Bettpfosten herab.« Hervorstehende Augen und eine heraushängende Zunge in einem geschwärzten, aufgeschwemmten Gesicht. Die Zehen einen Fuß über dem umgestürzten Stuhl. Min sank hilflos schluchzend gegen ihn.
    Er legte sanft die Arme um sie. »Oh, Min, deine Gabe bereitet dir mehr Qualen als Vergnügen. Ich würde dir den Schmerz nehmen, wenn ich könnte, Min. Ich würde es tun.«
    Es drang langsam zu ihr durch, daß auch er zitterte. Licht, er versuchte eisenhart zu sein, was der Wiedergeborene Drache seiner Meinung nach sein mußte, aber es schmerzte ihn, wenn jemand wegen ihm starb, bei Colavaere wahrscheinlich nicht weniger als bei Fei. Er blutete für jedermann, der verletzt wurde, und versuchte vorzugeben, daß dem nicht so war.
    »Küß mich«, murmelte sie. Als er sich nicht regte, schaute sie auf. Er blinzelte sie unsicher an, die Augen jetzt blau, nicht mehr grau, ein Morgenhimmel. »Ich necke dich nicht.« Wie oft hatte sie ihn geneckt, auf seinem Schoß gesessen, ihn geküßt, ihn Schafhirte genannt, weil sie es nicht wagte, seinen Namen auszusprechen, aus Angst, er könnte die Zärtlichkeit hören? Er ließ es sich gefallen, weil er glaubte, sie wollte ihn tatsächlich necken und würde aufhören, wenn sie glaubte, daß es nicht auf ihn wirkte. Ha! Tante Jan und Tante Rana hatte gesagt, man sollte einen Mann nicht küssen, wenn man ihn nicht heiraten wollte, aber Tante Miren schien ein wenig mehr von der Welt zu wissen. Sie sagte, man sollte einen Mann nicht zu beiläufig küssen, weil sich Männer so leicht verliebten. »Ich friere innerlich, Schafhirte. Colavaere, und Meister Fei... Ich muß warme Haut spüren. Ich brauche ... bitte?«
    Er senkte den Kopf so langsam. Zunächst war es der Kuß eines Bruders, sanft wie Milchwasser, beruhigend, tröstend. Dann wurde es anders. Überhaupt nicht mehr beruhigend. Er versuchte, sich ihr ruckartig zu entziehen. »Min, ich kann nicht. Ich habe kein Recht...«
    Sie ergriff zwei Händevoll seines Haars, zog seinen Kopf wieder herab, und nach einer kleinen Weile hörte er auf, sich zu widersetzen. Sie war

Weitere Kostenlose Bücher