Wolkenfern (German Edition)
zwischen den Studenten umherging, musste alle paar Minuten ermahnen: Achtung, Frantz, konzentrier dich auf die Komposition, achte auf die Proportionen, was stellst du denn da an! Für Agnes, eine ruhige Studentin mit ausgeprägtem Anstandsgefühl und einem Talent, das nur geringfügig über das Mittelmaß hinausreichte, war Sara unanständig, übertrieben, übermäßig. Wie abstoßend diese Negerin ist, dachte sie, wie überzogen! Sie schüttelte den Kopf über diese Hüften, Schenkel, Brüste mit großen dunklen Brustwarzen und konnte ihre grauen runden Augen nicht von diesem übertriebenen Körper losreißen. Auf Agnes’ Bild sah Sara aus, als wollte sie sich auf die junge Künstlerin stürzen und sie verschlingen, sie aus ihrer anständigen langen grauen Bluse und ihren Jeans schälen, das kalte Mark aus ihren protestantischen Knochen saugen, um sogleich nach diesem kannibalischen Festmahl hoch in die Luft zu hüpfen und affenartig am Kronleuchter zu schaukeln. Sehr gut, Agnes, aber etwas mehr Energie bitte. Zu Hause skizzierte der Professor Sara aus dem Gedächtnis, nackt, fremd unter den bekleideten Studenten, eine neue Version des Sklavenmarktes, wo eine exotische Frau mit gelbem Haar und einem verlockenden Körper zu verkaufen ist. Er überlegte – wenn er sie nach der Skizzierstunde zum Abendessen einladen würde, wäre das wider die Prinzipien? Sara stand auf den Schrubberstiel gestützt in der Haltung der Hottentotten-Venus und betrachtete die Studenten und den Professor mit großer Aufmerksamkeit, denn sie war weniger an dem Verdienst interessiert als daran, zu erfahren, wie es ist und was man fühlt, wenn man zur Schau gestellt wird. Keiner von denen, die hier die nackte Sara betrachteten und in ihrer Nacktheit Nahrung für ihre Begierden fanden, war imstande, das Geheimnis zu durchschauen, das Sara hütete. Weder Frantz, in dessen Träumen Sara bis ans Ende seines Lebens erschien, noch Agnes, die sich solche Träume nie gestattet hätte, noch der Professor, dessen Gespräche mit seinem Psychotherapeuten um Sara kreisten, ahnten, dass diese schöne Frau mit dem üppigen Körper keine dieser Leidenschaften erwidern würde, denn sie selbst hatte noch nie Leidenschaft empfunden. Ihr Körper, der so starke Gefühle weckte, kannte kein erotisches Verlangen, und wenn sie gelegentlich Dominika an sich drückte, dann lag darin nur ein sanftes Bedürfnis nach körperlicher Nähe.
Während der zwei Monate in Frankfurt wohnten Dominika und Sara bei Amber, einer Anthropologiestudentin, die Sara aus New York kannte. Amber hatte langes krauses Haar, bernsteinfarbene Haut und einen Ring im Bauchnabel. Tagsüber schlief oder schrieb sie, und abends, bevor sie zur Arbeit ging, machte sie ein so perfektes Tiramisu, dass Dominika kurzfristig das Reisen vergaß, satt und zufrieden wie ein Säugling lag sie auf der Couch und dachte, sie könnte für immer in dieser winzigen, höhlenartigen Wohnung bleiben. Bleibt doch noch!, bat die gastfreundliche Amber, habt ihr es hier etwa nicht gut?, und sie stellte die nächste mit süßer Masse gefüllte Schale auf den Tisch. Nachts arbeitete Amber unter dem Namen Kirke als Domina in einem Club für Sadomasochisten, sie behauptete, das sei Feldforschung für ihre Dissertation. Ach was, es gefällt dir doch dort!, neckte Sara sie, und möglicherweise hatte sie sogar recht, denn Amber betrieb ihre Feldforschung schon seit Jahren, und ein Ende der Dissertation war noch nicht in Sicht. Abends verwandelte sich Amber in Kirke, sie zog ein Lederkorsett und hohe Stiefel an, und peitscheschwingend übte sie deutsche Flüche und Schimpfworte, die sie später am Abend an die nach Züchtigung lechzenden Kunden richten würde. Du Schwein!, brüllte sie, bitte deine Herrin um Gnade! Und du, Schweinemaul? Du hast wieder eine Strafe verdient, zischte sie grausam und entblößte die Zähne, während Dominika und Sara sich schieflachten, denn sie mussten an die Schweine auf dem Hof von Hans und Grażynka denken, wehrlose, fette Geschöpfe mit ewig hungrigen Mäulern. Amber-Kirke konnte einen ganzen Körper mit einer solchen Leichtigkeit auf japanische Weise schnüren, als mache sie einen Knoten ins Taschentuch, und sie versuchte Dominika und Sara davon zu überzeugen, dass frisch gegerbtes Leder sehr gut riecht. Sie erklärte ihnen, wie man das mit Stacheln besetzte Halsband verengte, stark, aber so, dass der Kunde nicht erstickte, und sie bat, an einer von ihnen das neue Modell einer
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