Wolkenfern (German Edition)
sie mit Dominika verwandt war, bevor die Frau sie noch angesprochen hatte. Eine so offensichtliche Ähnlichkeit musste einen Sinn haben, dachte Sara, sie war wie etwas dem Körper Eingeschriebenes, das das schlafende Mädchen aus Polen nach dem Erwachen würde lesen müssen. Der gleiche breite Mund mit den launisch nach unten gezogenen Mundwinkeln, die scharf umrissenen Wangenknochen, die sehr dunklen Brauen, die schwer zu bändigen waren, weil sie zusammenwachsen wollten. Dominikas amerikanische Tante Ruth Goldbaum, die kein bisschen Ähnlichkeit mit einer Tante hatte, schüttelte Sara mit festem, männlichem Griff die Hand. Sie wirkte stark und selbstbewusst auf Sara, eine von diesen Frauen, denen man von Kindheit an beigebracht hat, dass die Welt voller Möglichkeiten ist statt Gefahren. Sie betrachtete Ruth, die sich über Dominika beugte und im nächsten Augenblick die Hand der Schlafenden in die ihre nahm. Ruth, das jüngste Kind Ignacys, war vielleicht zwölf Jahre älter als Dominika und sah aus wie ihre Schwester. Darf ich ihre Hand halten?, fragte sie Sara. Ja, das darfst du. Ruth verließ Dominikas Zimmer erst im Morgengrauen, als die Frühschicht begann und der Geruch von frischem Kaffee, Semmeln und Desinfektionsmittel durch die Gänge wehte. Sara hatte sie nicht gestört, durch die Glasscheibe hatte sie gesehen, dass Ruth die ganze Zeit sprach. Wenn sie bloß nicht anfängt zu singen wie Jadzia, dachte sie, denn beim Anblick dieser selbstsicheren Amerikanerin, die redete wie eine Fernsehmoderatorin, spürte sie einen leisen Stich der Eifersucht, der sie selbst unangenehm überraschte. Sie ertappte sich dabei, wie sie versuchte, Sätze zu formulieren wie im College, in der Gesellschaft weißer Kommilitoninnen, die ihren Bezirk von New York nur aus Filmen kannten. Lass mich wissen, wenn sie aufwacht, bat Ruth. Sie wird doch aufwachen, oder? Ja, bestimmt. Erzählst du ihr dann von mir? Ja, das mach ich.
Nach dem Tod ihres Vaters hatte Ruth Goldbaum ihren Rucksack gepackt und Pasadena verlassen. Sie hatte die Absicht, einige Zeit in Europa zu verbringen, und wollte an die Universität zurückkehren. Doch nach dem Besuch bei Dominika in der Klinik fühlte sie sich nicht zur Rückkehr bereit, sie hatte den Boden unter den Füßen verloren, sie fühlte sich wie eine Surferin, der plötzlich das Surfbrett entglitten ist, obwohl alles so gut lief und sie sich auf jede Welle vorbereitet fühlte. Ruth träumte nachts von Asche, in ihren von polnischen Wörtern durchschwirrten Träumen hing der Geruch nach verbranntem Fleisch, sie verlor ihr Zuhause aus dem Blick und den Weg, der dorthin zurückführte. Kurz entschlossen kaufte sie ein Ticket für den nächsten Flug nach Delhi. Sara hielt ihr Versprechen und erzählte Dominika von Ruths Besuch. Bald kamen Briefe und Postkarten aus Indien, dann aus Laos, Vietnam und Kambodscha, schließlich landete Ruth in Thailand, wo sie auf der Insel Samui in einer italienischen Pizzeria arbeitete. Dort wollte sie länger bleiben. Niemals war sie jemand anders gewesen als Ruth Goldbaum aus Pasadena, jetzt hielten die Touristen sie für eine Italienerin, und das gefiel ihr sehr. Sie schickte ein Foto: Vor dem Hintergrund des Meeres, das glänzte wie flüssiges Glas, eine braungebrannte Frau im weißen Baumwollkleid. Dominika steckte das Foto ihrer Tante-Schwester ins Portemonnaie, wie es die Angewohnheit ihrer Mutter war, doch wenn Ruth später an den verschiedenen Wohnorten anrief, wo Dominika mit Sara zeitweilig wohnte, entstanden immer wieder Pausen in den Gesprächen.
Die Ähnlichkeit im Timbre der Stimme, die nicht voneinander zu unterscheidenden Arten des Lachens deprimierten beide angesichts des Mangels an Nähe, die nicht hatte wachsen können. Wo Ruth auch war, sie bot Einladungen und Hilfe an, doch Dominika fühlte sich mit Sara am wohlsten, und nur manchmal, zwischen Schlaf und Erwachen, meinte sie, eine Stimme zu hören, die sagte: Du siehst aus wie die Schwester, die ich immer haben wollte. Dann nahm sie das Foto aus dem Portemonnaie und betrachtete die Frau in dem weißen Kleid. So wie Jadzia nicht auf einen neuen Vater gefasst war, konnte Dominika in sich nicht den Platz für eine Tante finden, die ihre Schwester sein wollte und auch nach einer Schwester aussah. Sie wusste, dass diese dem Anschein nach bestehende Schwesternschaft in ihrem Leben nichts bewirken würde, auch wenn es vielleicht einfacher wäre, Ruth Goldbaums Schwester und damit Jüdin in Pasadena zu
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