Wolkenfern (German Edition)
Person wurde. Nach zwei Jahren, nicht früher, doch immerhin, nach zwei Jahren also begann Eulalia Barron zu ihrer eigenen Überraschung Dominika zu erzählen, an was in ihrer Vergangenheit die gelesenen Bücher sie erinnerten. Ihre persönliche Geschichte drängte nach außen. Sie lauscht und überlegt, ob sie schon von Napoleons Nachttopf erzählt hat? Sie muss ihr unbedingt davon erzählen, dieses Mädchen kann nicht nur gut vorlesen, sie kann auch gut zuhören. Eulalia Barron hat den Eindruck, dass Dominika Geschichte trinkt wie ihre Farne Wasser. Sie muss ihr erzählen, dass Icek Kac, der so viele Jahre ins Museum gekommen war, irgendwann nicht mehr auftauchte. Ein, zwei Wochen vergingen, dann bekam Eulalia ein Päckchen. In einer Schachtel voll Styroporkügelchen, die aussahen wie die Früchte des Schneeballstrauches, fand sie ein altes Gefäß und einen Brief. Verehrte Frau Eulalia, liebe Freundin!, schrieb Icek, das ist der Nachttopf Napoleons, bitte nehmen Sie ihn an sich. Ich garantiere, dass er echt ist. An den Ort, an welchen ich mich nun begebe, kann ich ihn nicht mitnehmen. Leider bin ich nicht dazu gekommen, ihn seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückzugeben, deshalb denke ich, dass ich ihn am besten Ihnen hinterlasse. Ihr ergebener Freund Icek Kac.
Eulalia betrachtete den zerkratzten Nachttopf, dessen ausgeblichene Bemalung genauso gut chinesische Drachen wie Husaren oder Rosen darstellen mochte, und sie nahm ihn als Übertopf für einen ihrer Farne, die in ihrer New Yorker Wohnung genauso üppig sprossen wie in der Wohnung an der Studencka-Straße, obwohl sie eine bloße Erinnerung an jene waren. Napoleons Nachttopf, davon muss ich Dominika erzählen, gleich jetzt, oder habe ich ihr schon davon erzählt?, grübelt Eulalia Barron und sinkt in diesen Schlaf alter Leute, der zugleich tief ist, weil er so viele Jahre auf dem Buckel hat, und flach, weil er so voller Bilder ist, dass ein unachtsamer Mensch hindurcheilen könnte, ohne sich mehr als die Füße zu benetzen.
Dominika liest noch eine Weile, dann legt sie das Buch auf ihre Knie und schaut, ob die schlafende Greisin nicht doch ein Auge öffnet und, wie es ihre Gewohnheit ist, sagt: Lies, lies, mein Mädchen, ich schlafe überhaupt nicht und bin auch nicht gestorben, denk nicht, dass ich dir so einen Streich spielen würde.
Eulalia Barron lächelt im Schlaf, beim Anblick ihres Kopfes muss Dominika an die Stoffpuppe denken, die sie einmal zum Geburtstag von ihren Eltern bekommen hat und die, so hofften die Eltern, Dominika davon abbringen würde, mit der kaputten, an eine Leiche erinnernden Puppe Oma Halinas zu spielen, die diese seinerzeit aus dem Osten mit nach Wałbrzych geschleppt hatte. Schließlich warf Jadzia wütend die alte Puppe weg, über die Oma Halina ihrer Enkelin alle möglichen haarsträubenden Geschichten erzählt hatte. Von diesem Zeitpunkt an interessierte sich Dominika nicht mehr für Puppen, denn die neuen, sauberen, die sie dann bekam, die nach Klebstoff und Plastik rochen, trugen keine Geschichten in sich. Oma Halina in Wałbrzych kann nicht ganz glauben, dass Dominikas Arbeit in Amerika darin besteht, dass sie einer gebrechlichen Greisin Bücher vorliest, aber sie ist eifersüchtig auf Eulalia Barron. Sie wäre eher bereit zu glauben und zu verstehen, dass jemand Dominika dafür bezahlt, dass sie einen Hund ausführt, ein Tier kann sich ja nicht selbst versorgen. Aber Bücher vorlesen? Was ist das denn für eine Arbeit? Kann sich diese amerikanische Alte denn nicht das Radio anmachen?, fragt Halina Chmura ihre Enkelin am Telefon. Hat sie keinen Fernseher? Kein Radio? Wer hat denn so was schon gehört, für so einen Firlefanz Geld rauszuschmeißen! So und ähnlich pflichtet Jadzia ihrer Schwiegermutter bei, obwohl sie ihr sonst in nichts Recht gibt. Radio an und Geld auf die hohe Kante legen, so benimmt sich eine normale alte Frau! Halina ist eifersüchtig auf eine ihr völlig unbekannte Greisin, die Dominika beschäftigt und mit ihr Zeit verbringt, und Jadzia stirbt wie üblich vor Sorge, ihrer Tochter könnte bei Eulalia Barron etwas Böses zustoßen, jemand könnte sie dort ausnutzen, missbrauchen, verletzen. Erst als sie erfährt, dass Dominikas Arbeitgeberin kinderlos ist und keinen einzigen Angehörigen hat, beginnt sie auf die für sie typische Weise einen möglichen Vorteil zu wittern. Vielleicht wird die Alte ihr ein Vermögen hinterlassen oder die Wohnung überschreiben? So eine Wohnung in New York ist bestimmt
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