Wolkenfern (German Edition)
sicher, dass du dich so anziehen willst?, fragte Sara vorsichtig, als ihre Freundin aus der Umkleidekabine trat. Ja, Dominika war sicher, die weiche, flauschige Mütze erinnerte sie an eine Wolke. Eine Wolke?, fragte Sara nach, doch als sie kurz darauf Dominikas Kopf durch die Frankfurter Straßen schweben sah, musste sie ihr recht geben – das war ein treffender Vergleich. Sie ließen das abweisende Zentrum schnell hinter sich und strebten den Vororten zu; sie gingen über Straßen, an deren Sauberkeit Jadzia einiges auszusetzen gehabt hätte, und folgten ihren Nasen in billige Kneipen, aßen dort Gemüse und aufgeweichte Pommes Frites in scharfer Paprikasauce, kauften zum Nachtisch klebrige Süßigkeiten und suchten Arbeit. In einem kleinen griechischen Laden erkannte Dominika den aus der Kindheit im Gedächtnis bewahrten Geschmack von Rachatlukum in einem rosa Würfel mit Nüssen, wie ein Säugling schmatzend stand sie da, und Sara fragte: Was ist los mit dir? Was siehst du, Dominika Chmura? Dominika konnte dieses Erinnerungserlebnis nicht gut erklären, weil sie keine Ahnung hatte, was Rachatlukum auf Englisch oder Deutsch heißt. Ich hatte mal einen Freund auf Piaskowa Góra, ein kleiner Griechenjunge, er hieß Dimitri, der brachte mir immer Süßigkeiten mit, sagte sie zu Sara. Ja, und? Nichts, er ist weggegangen. Und wo ist er jetzt, ihr erster Freund, der Junge mit den weißen Zähnen, mit dem Schulranzen voller Rachatlukum, der herumhüpfte wie ein Kreisel? Vielleicht sah er jetzt diesen Männern mit dunklen Augen und Haaren ähnlich, die gelegentlich versuchten, Dominika und Sara anzumachen, dabei anboten, was sie auf Lager hatten: Sex, Kaffee, bestenfalls ein Abendessen in einer von diesen Kneipen, deren Geruch lange in den Haaren hängenbleibt. Vielleicht war er auch Mönch auf Athos geworden oder besser noch ein Reeder, ein Onassis, dieser kleine Grieche aus Wałbrzych. Vielleicht ist er verheiratet und hat vier Kinder? Dominika wüsste es gern.
Sie studierten die Stellenangebote, die an Fensterscheiben klebten, in Telefonzellen, an den Wänden der Läden mit Billigkleidung. Sie konnten Betreuerinnen von Kindern oder alten Leuten werden, Prostituierte, Kellnerinnen, Hundeausführerinnen, Abwäscherinnen, Putzfrauen, Hostessen, mit Kletterprüfung konnten sie in Bürogebäuden Fenster putzen, in Wirklichkeit also hatten sie keine große Auswahl. Schau dir das an!, rief Sara. Sie konnten für die Studenten der Kunstakademie als Nacktmodell posieren, das klang noch am passabelsten. Sie gingen zur Vorstellung und warteten zwei Stunden mit einem guten Dutzend anderer Frauen verschiedener Nationalität und aller Altersstufen in einem Saal, der nach Farbe und Lösungsmittel roch. Dominika und Sara gingen zusammen hinein, und der elegante Professor mittleren Alters fand sie beide interessant, die junge Professorin stimmte ihm zu. Leider konnten sie Dominika nicht nehmen, sie hatte nicht die entsprechenden Dokumente, mit denen man sie hätte legal beschäftigen können, keine Papiere, keine Arbeit, wie schade. Dominika blieb nichts übrig, als deutsche Hunde auszuführen, während Sara die Arbeit als Nacktmodell bekam, denn für das Professorenpaar verkörperte sie die Dekonstruktion der Weiblichkeit und Hybridität des Subjekts. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass beide ganz einfach neugierig darauf waren, wie ihr glatter brauner Körper mit dem herausgereckten Hintern ohne Verpackung aussah.
Eine Woche lang stand Sara in der Mitte eines Podests, auf einen Schrubberstiel gestützt, weil nichts anderes zur Hand war, während die Studenten in das sogenannte Skizzieren nach der Natur eingeführt wurden. Die Natur war Sara, und jeder Student sah sie anders. Ihr Professor, der sich gerne blumig und ungenau ausdrückte, erklärte, dass zwischen ihren Augen und diesem braunen nackten Körper ein Ozean der Phantasie liege, man müsse sich hineinstürzen und darin schwimmen wie die Nixen. Phantasie! Mythen und Macht, Symbole und Archetypen, darum geht es hier, meine Damen und Herren, obwohl Sie selbstverständlich auch die Technik und die Grundlagen des Bildaufbaus nicht vernachlässigen dürfen! Ans Werk! Die Studenten stürzten sich auf Sara, jeder so gut er konnte. Für Frantz war Sara so schön, dass er die nächste Stunde kaum abwarten konnte und beim Skizzieren die Kohle viel zu fest aufdrückte, so dass die Krümel in alle Richtungen flogen. Sara sprengte den Rahmen seiner Staffelei. Der Professor, der
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