Wolkenfern (German Edition)
Doch diesmal ist es Dominika, die etwas sagen will, vielleicht weil sie mehr getrunken hat als sonst. Verstehst du überhaupt irgendetwas?, fragt sie. Was weißt du denn von Piaskowa Góra? Nichts weißt du. Da ist der Himmel nachts grün, man kann aufs Dach vom Babel gehen, schweben wie auf einem fliegenden Teppich, man hält sich am Rand fest und fliegt. Dominika merkt, dass sie ein bisschen zu viel getrunken hat, denn das blaue Schlafzimmer erinnert sie plötzlich an die Schneehöhle, in der sie sich als Kind in Wałbrzych verkroch. Wałbrzych, sagt sie zu Ivo, früher Waldenburg, was weißt du denn von dieser Stadt in den Wiedergewonnenen Gebieten? Weißt du, dass ich diese Stadt manchmal schön finde? Dort habe ich einen Jungen gekannt, der mir im Schulranzen Rachatlukum mitgebracht hat, hab ich dir das erzählt? Was weißt du denn von abgebrannten Häusern, von dem Geruch nach verbranntem Fleisch, den man nie loswird, weil er in Haut und Haar sitzt? Ich rieche es an meiner Mutter, ich kann weder vor ihr fliehen noch zu ihr zurückkehren, wenn ich irgendwo länger bin, wird dieser Geruch ringsum immer stärker, und ich muss weg. Du bist ein Schwuler, den die Familie nicht akzeptiert, wie er ist, das kommt vor. Sara hat ihre schwarze Venus, eine tolle Geschichte, aber ich? Ich bin eine Absonderlichkeit, die in keine Schublade passt, jemand ohne besondere Fähigkeiten, Wildwuchs. Du wirst ein berühmter Konditor, versöhnst dich mit deiner Familie, deine Geschichte hat ein Happy End, und Gärtner wirst du noch viele treffen.
Ivo, der gebückt auf der Bettkante gehockt hatte, richtete sich auf. Trink, mein Frauchen, ruft er aus, trink von diesem Wein!, und er hält Dominika das gefüllte Glas an den Mund. Trinken wir auf unsere Lebenden und unsere Toten! Trinken wir auf unsere Reise! Sie küssen sich auf eine Art und Weise, die weder in Dominika noch in Ivo Begehren weckt, aber an diese Regung erinnert. Der kalifornische Sonderangebotswein aus dem Keller von John III Smith ist doch nicht so übel, und nach der dritten Flasche fängt Ivo an zu weinen, und Dominika fällt plötzlich auf, wie sehr ihr Zwillingsgatte seinem verstorbenen Vater gleicht. Sie schlafen aneinandergeschmiegt auf dem Ehebett ein, Ivo träumt von Schokolade, eine ganze Weltausstellung aus Schokolade träumt er. Bravo! Bravo!, ruft man ihm zu, der elegant und unbefangen da steht, irgendwo weit weg von Harrison. Seine Zwillingsgattin träumt von Gerüchen und Farben, weißen Treppenstufen, sonnendurchglühten Felsen, frisch aufgeschnittenen Melonen, die so groß sind, dass in der Schale einer Hälfte ein Kind Platz gehabt hätte. Sie träumt von dem Jungen, der ihr immer Rachatlukum mitgebracht hat, und von der vergessenen Freundin, mit der sie auf dem Dach des Betonhochhauses in Wałbrzych das Gedicht von der weißen Lokomotive rezitierte.
Am nächsten Morgen reisen Ivo und Dominika aus Harrison ab, verabschiedet von Mutter und Schwestern Smith, die nicht wissen, dass Mann und Frau ab jetzt getrennte Wege gehen.
Es sollte nur für kurze Zeit sein, für den Anfang, bis sie etwas Besseres gefunden hätte, doch Dominika ist in dem armseligen Zimmer an der Siebten Straße länger geblieben als in jeder anderen Wohnung. Seit drei Jahren liest sie Eulalia Barron vor, drei Jahre Vorlesen von neun Uhr morgens bis drei Uhr am Nachmittag, mit einer Mittagspause. So lange hat Dominika noch nie ein und dieselbe Arbeit gehabt. Władzia?, fragt Eulalia Barron wieder, daran hat Dominika sich schon gewöhnt, am Anfang war sie Władzia oder Icek, doch in diesem Sommer ruft die alte Frau auch leise andere Namen. Mama, sagt Eulalia Barron, du, ihre Pupillen werden riesig wie die einer Katze beim Jagen in der Nacht. Mama, wach auf, wir müssen zum Konsul Sugihara, wach auf Mama, du musst in Yokohama die Mondscheinsonate spielen!
Frau Eulalia, sagt Dominika, ich mache das Fenster ein wenig auf und lasse die Sonne herein, das mögen Sie doch so gern, danach lese ich Ihnen von den Sirenen vor. Mama, sagt die alte Frau wieder mit kindlicher Hartnäckigkeit. Dominika spürt, dass es mit dem Vorlesen für Eulalia Barron bald ein Ende haben wird, denn die alte Frau ist am Ende ihrer Geschichte angekommen. Dominika weiß indessen nicht, dass sich auch am anderen Ende der Welt eine alte Frau anschickt zu sterben – ihre Oma Halina, genannt Kolomotive.
Während Eulalia im Spätherbst still und leise bei den Klängen der Mondscheinsonate stirbt, wird Dominikas Oma
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