Wolkenfern (German Edition)
Schlot. Unter ihren Lidern spürte Jadzia, wie ein neuer Kummer aufzog.
Keine Chance, höchstens zwei Monate, Krebs im letzten Stadium, Metastasen überall, sagte der Arzt, und Jadzia brach in Tränen aus, denn die Aussicht auf den sicheren baldigen Tod eines Menschen, den man so viele Jahre lang nicht gemocht hat, kann sehr weh tun.
Mutter, warum hast du bloß immer diese Zigaretten gepafft?, legte Jadzia los, kaum dass ihre Schwiegermutter die bläulichen Augenlider aufgeschlagen hatte. Immer nur paffen, anstatt schön Salat zu essen, oder Sauerkraut. Jadzia stand in ihren großen Biberpelz gehüllt am Bett ihrer Schwiegermutter. Vor Jahren hatte ihr Mann ihr den Mantel zum Geschenk gemacht, wahnsinnig überbezahlt, weil ihm eine frechdreiste Alte weisgemacht hatte, es sei Nerz. Der Mantel war schwer und für Jadzia zu groß, doch er war ihr zu schade, um ihn wegzugeben, immerhin war es ja ein natürlicher Pelz, sagte sich Jadzia jedes Mal wieder, wenn sie im Schrank aufräumte, und der Biberpelz blieb liegen bis zum nächsten Winter. Halina lag halbtot in ihrem Bett, ein Schlauch ragte aus ihrem Hals, ihr Mund war eingesunken, und ihre Augen waren so stumpf, als hätten sie eine Woche im Sand gelegen. Sie blinzelte mit den Augenlidern, versuchte zu begreifen, warum ein Bär an ihrem Bett stand, der Bär, der im Dorf ihrer Kindheit getanzt hatte, und warum dieser Bär mit der Stimme ihrer Schwiegertochter Jadzia sprach. Sie wollte fragen, Jadzia bist du’s oder ein Bär?, doch ihrem Mund entrang sich nur ein trockenes Röcheln, ein Geräusch wie beim Zerbröseln von Styropor. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie wieder auf eigenen Beinen stehen würde, und erst recht nicht damit, dass sie aus eigener Kraft das Krankenhaus würde verlassen können, doch Halina Chmura schlug den Ärzten ein Schnippchen, und zehn Tage nach der Operation erwischte eine Krankenschwester sie auf der Toilette mit einer Zigarette in der Hand, der Rauch quoll Halina aus Mund, Nase und dem Loch im Hals. Sie aß fast nichts mehr, lutschte nur noch Zuckerwürfel und bat Jadzia, ihr am Kiosk Coca-Cola zu kaufen. Die Zigaretten, die sie im Krankenhaus heimlich rauchte, konnten ihr nicht mehr schaden, als sie es schon getan hatten, deshalb kümmerte das die Ärzte nicht. Nach siebzehn Tagen zog Halina Chmura sich die Kanüle aus dem Handgelenk, bat um ihre Kleidung, bedankte sich für die Aufmerksamkeit und erklärte, sie habe jetzt die Nase voll und gehe nach Hause. Sie steckte ihr Nachthemd in die Hugo-Boss-Tüte und teilte ihrer Schwiegertochter warnend mit, ja, natürlich könne sie sie nach Hause bringen, aber mit dem Bus und nicht mit dem Taxi. Jadzia warf einen Blick auf das unhygienische Loch im Hals der alten Frau, auf ihre angeschmutzten Fingernägel und die Pantoffeln vor dem Bett, die so abgetragen waren, dass sie eher wie eine organische braune Masse mit Fußabdruck wirkten. Heilige Muttergottes, stöhnte sie, was für eine Brutstätte der Bakterien! Du kommst mit mir nach Piaskowa Góra, Mutter, von wegen nach Hause, da gibt es überhaupt keine Diskussion. Du kannst Dominikas Zimmer haben, nur rauch bitte im Badezimmer und um Himmels willen nicht im Wohnzimmer, davon werden die Gardinen gelb, und alles stinkt nach Rauch. Halina protestierte nicht, denn sogar ihr raues, unbeholfenes Herz begriff, dass das ein Beweis von Liebe war. Nein, diese Pantoffeln lass bitte hier, Mutter, ich kauf dir neue bei den Russkis im Manhattan. Am selben Tag rief Jadzia in New York an, was sie selten tat, weil sie fürchtete, es könnte jemand abnehmen und auf Englisch mit ihr reden, das wäre ihr sehr peinlich. Oma Halina liegt im Sterben, sagte Jadzia in den Hörer und weinte in die Stille, die plötzlich zwischen Piaskowa Góra und dem richtigen Manhattan eintrat.
Oma Kolomotive, die Qualm ausstößt! Dominika bekam Angst, sie würde es nicht mehr schaffen, und ihre Vorbereitungen für die Abreise nach Polen waren seit dem Unfall das Erste, was sie hastig tat. Sie spürte, dass der laue Fluss, in dem sie sieben Jahre gelebt hatte, nicht der einzige Strom in Bewegung war und dass auf Piaskowa Góra die Zeit anders verronnen war. Sara hatte mehrmals gesagt, es ist Zeit, dass du mal an die Zukunft denkst, ob du nicht vielleicht mal eine Beziehung versuchen solltest, doch Dominika erwiderte dann stets, es reiche ihr einfach, zu sein, vorläufig habe sie alles, was sie brauchte, das kleine Zimmer im East Village, ein Dach, auf dem sie nachts sitzen
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