Wolkenfern (German Edition)
konnte, die Bücher, die sie Eulalia Barron vorlas, Briefe von Ivo in Paris, die Fotografie. Und außerdem – sagte Dominika manchmal –, du bist doch auch in keiner Beziehung, Sara Jackson, und dann wurde ihre Freundin still. Dominika dachte an ihren ersten Lebensplan, den sie gehabt hatte, und sie sehnte sich weniger nach diesem Plan als nach der Gewissheit von damals, das Glück sei in Reichweite und die Zukunft sei der Weg zu einem Ziel. Eine Mietwohnung in einem Block im Warschauer Stadtteil Chomiczówka, der Piaskowa Góra so ähnlich war, und Adaś, der Mann, an dessen Gesicht sie sich höchst vage erinnerte, denn was sie an ihm anziehend gefunden hatte, war nicht er selbst, sondern die Möglichkeit, vor Jadzia und Wałbrzych zu fliehen. Erst jetzt, aus der Perspektive der auf Reisen verbrachten Jahre, wusste Dominika, dass diese Flucht, die ihr damals so perfekt, so gut geplant erschien, genau dazu geführt hätte, dass sich in ihr Jadzias Schicksal wiederholte. Manchmal erinnerte sie sich daran, wie Adaś sie berührt hatte, im Rückblick nun erkannte sie diese Berührungen als unbeholfen und nervös, anders als die Berührungen der Männer, die sie nach ihm kennenlernte. Verlieb dich, schlag über die Stränge, riet ihr die Männern gegenüber völlig gleichgültige Sara, ähnlich sprach der ewig verliebte Ivo, doch Dominika verliebte sich nicht richtig und schlug auch nicht über die Stränge, ihre kurzen Affären mündeten in die oberflächlichen Freundschaften zufälliger Reisebekanntschaften, und bald saß sie mit dem einen oder anderen bei Lucy’s am Tompkins Square und hörte sich an, wie wichtig es sei, die Wale zu retten oder nach Kambodscha zu fahren und Angkor Wat vor der Zerstörung durch den Tourismus zu bewahren. Vielleicht hätte man Ähnlichkeiten zwischen den Männern entdecken können, mit denen Dominika vier, fünf, höchstens acht Wochen verbrachte, bevor sie so unmerklich und leise verschwanden, dass Sara manchmal kaum glauben konnte, dass es sie überhaupt gegeben hatte. Sie waren groß und mager, sehnig und stark, ihre Gesichter ausdrucksvoll, aber noch unfertig, als zeichne sich darauf erst eine Skizze des Menschen ab, der sie mal werden sollten. Sie trugen Freizeitkleidung, gingen nicht oft zum Friseur, hatten wichtige Dinge vor und hochfliegende Pläne, und sie wussten nicht, dass ihnen an Dominika nicht ihre Augen, ihr Mund, ihre langen Beine am besten gefielen, sondern die Tatsache, dass sie ganz offensichtlich nichts von ihnen wollte und nichts erwartete und gerade so viel nahm, wie sie zurückgeben konnte.
Wenn sie gefragt wurde – von Sara zum Beispiel –, was sie von diesen Männern denn in Erinnerung behielt, lachte Dominika. Große weiße Zähne zum Beispiel, mit einer Lücke zwischen den Schneidezähnen, eine Narbe auf der Stirn. Sie erinnerte sich an Geschichten, an Bauchnabeln, Fingernägel, Fahrräder, Narben, die Vornamen von Müttern, einen Labrador, der vom Zug überfahren wurde, Hände mit schmalen langen Fingern, und wahrscheinlich hätte sie diese Einzelteile auch bestimmten Personen zuordnen können, doch sie hatte gar nichts dagegen, dass sie wie zerstreute Puzzleteile in ihrem Kopf herumlagen. Dominika wusste, dass sie noch nichts gefunden hatte, was ihr den verlorenen Zauber der Zahlen ersetzen konnte, im Innern war sie leer wie ein unmöbliertes Haus, in dem nur ein paar Geräte herumstehen, ein Stapel Bücher und Kisten. Dominika auf Wanderschaft denkt nicht darüber nach, ob sie so oder anders ist, sie zieht nur gelegentlich eine Art Bilanz, bei der sie vor allem interessiert, was in der zweiten Waagschale ist, denn was in der ersten ist, weiß sie schon lange – da sitzt Jadzia und bemuttert. Sara und ihre Geschichte von der Hottentotten-Venus – Dominika platziert ihre Reisegefährtin und Freundin als Gegengewicht zu Jadzia, dazu kommen Ivo, der Zwilling und Ehemann, der für mich so da ist, wie ich für ihn, schließlich Eulalia Barron und ihre Bücher –, aber Jadzia wiegt immer noch schwerer. Dominika wirft Lust ohne Schuldgefühl dazu, Erinnerungen an Bauchnabel, Fingernägel, Fahrräder, Narben, aber es reicht immer noch nicht als Gegengewicht zu Jadzia. Dominika weiß, dass diese Reise, die sie seit sieben Jahren von Piaskowa Góra fernhält, leichter gewesen wäre, wenn es nur um eine Flucht gegangen wäre, wenn sie einfach hätte vor ihrem Zuhause weglaufen, es abwerfen, vergessen wollen, doch je stärker Dominika ist, desto weniger
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