Wolkenfern (German Edition)
gerade mit verdoppelter Schärfe zu.
Als fast alles fertig war, rannte Jadzia zum Fischhändler, um einen Karpfen zu kaufen, der Karpfen musste lebendig sein, das verstand sich von selbst. Nichts war so gut wie lebender Karpfen, egal ob man ihn in Aspik, gebraten oder auf jüdische Art machen wollte. Früher musste man den Karpfen eine Woche vor den Feiertagen kaufen, und bis Weihnachten hieß es dann, sich am Becken waschen, weil der Karpfen in der Wanne schwamm. Jetzt konnte man am Tag vor Weihnachten losgehen und sich immer noch aussuchen, ob man einen größeren oder einen kleineren wollte, und wenn man es wünschte, wurde er auch gleich dort getötet und ausgenommen. Alles so vornehm in der Demokratie, seufzte Jadzia. Sie selbst allerdings wollte nicht, dass ihr Karpfen auf der Fischtheke beim Real totgeschlagen wurde, denn in ihrem Haushalt wurde der Karpfen erst unmittelbar vor der Zubereitung getötet, die gesalzenen Schnitten mussten in der Pfanne hüpfen, dann sah man, dass der Fisch wirklich frisch war. Früher hatte Stefan immer den Karpfen getötet, und in all den Jahren seit seinem Tod machte es Halina, Jadzia hielt sich für zu empfindsam. Fürs Töten sind die Männer zuständig, pflegte sie zu sagen, und als der Mann nicht mehr da war, übernahm es die Schwiegermutter, die altershalber weniger Frau war als sie. Halina, die konnte einen Karpfen erledigen wie keiner sonst, ein Hieb und fertig, direkt auf den Kopfansatz. Stefan haute nie fest genug und musste noch mal und noch mal probieren, danach musste man die ganze Küche putzen, weil der Karpfen ihm entschlüpfte und mit halbzerschlagenem Kopf über den Boden glitschte. Als Dominika klein war, fütterte sie den Karpfen in der Badewanne mit Brotkrümeln, und wenn der Augenblick der Hinrichtung kam, schrie sie wie am Spieß, wie könne man ein Tier töten, dem man erst Hoffnung gemacht hatte, und sie rannte hinaus und knallte die Türen. Diese spinnerten Spleens immer! Jadzia verdrehte die Augen und weigerte sich zur Kenntnis zu nehmen, dass ihr Kind diesen köstlichen Fisch in keiner Form essen wollte. Wann würde sie nur endlich kommen? Dieses Warten machte einen ja ganz verrückt. Das Warten auf ihre Tochter saß Jadzia nach der langen Zeit in allen Fasern wie dem Schinken im Kühlschrank die Kräutermarinade. Mama, das Flugzeug hat Verspätung, auf dem Flughafen war Alarm, ich komme erst am vierundzwanzigsten! Dominika hat ihrer Mutter einen ganz schönen Schrecken eingejagt, heilige Muttergottes, Alarm auf dem Flughafen, ist was kaputtgegangen? Nein, nein, sie dachten bloß, auf der Toilette läge eine Bombe. Dieses Kind konnte einen wirklich um den Verstand bringen. Jadzia tat bis zum Morgen kein Auge zu, sobald sie einnickte, sah sie unter ihren geschlossenen Lidern eine funkensprühende Explosion, wie in diesen Kriegsfilmen, die sie nicht ausstehen konnte.
An Heiligabend ging sie kurz vor Ladenschluss noch einmal hinaus, um Süßigkeiten zu kaufen, der Vorrat an Waffeltörtchen, Cremekonfekt, Halwa und Schokoladen mit verschiedenen Füllungen erschien ihr plötzlich nicht ausreichend für ihre auf Süßigkeiten versessene Tochter. Dann konnte sie auch Waldek fragen, der früher Bergmann war und jetzt beim Real als Wachmann Dienst schob, vielleicht hatte er nach der Arbeit Zeit, auf einen Sprung vorbeizukommen und den Karpfen totzuschlagen, weil Halina das nicht mehr schaffte. Der Frost wurde schärfer, der Asphalt glitzerte wie mit Glassplittern übersät, Jadzia zog sich ihre alte Baskenmütze tiefer ins Gesicht und senkte den Kopf gegen den eisigen Wind. Ihre Tochter schickte ihr immer so hübsche Sachen, dann fragte sie, Mama, gefällt es dir?, und ihre Mutter antwortete: Schön, ja, sie lege es zurück für besondere Anlässe, wär doch schade drum, wenn sie es hier zu Hause auftragen würde. Auch wenn sie mal etwas getragen hatte, das Preisschild blieb dran, wär doch schade, es abzureißen.
Auf halbem Weg zum Real wurde Jadzia Chmura jäh aus ihren Gedanken an den Karpfen und andere Wesentlichkeiten des Lebens gerissen. Eine große Person mit Fuchspelzhut schob sich ihr in den Weg und grüßte sie von oben herab. Erst auf den zweiten Blick erkannte Jadzia Leokadia Wawrzyniak, ausgerechnet Leokadia Wawrzyniak, die Mutter des Kaplans, der vor über sieben Jahren mit Dominika angebandelt und die Verwirrung verursacht hatte, in deren Verlauf Dominika in jenen Unglücksfiat gestiegen war. Jadzia kam die Erinnerung an eine flüchtige
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