Wolkenfern (German Edition)
Jemand brüllte einen anderen durch das offene Fenster in einem Englisch an, das man in keiner Schule lernen kann, zwei Polinnen stritten sich an der Haltestelle, weil die eine die andere bei der Nachtschicht am Spülbecken hätte ablösen sollen, aber nicht gekommen war, was glaubst du eigentlich, verdammt noch mal, dass du bei dir in Zabrze bist? Hier fühlte Dominika Chmura sich auf Anhieb wohl. Zum ersten Mal wurde ihr hier klar, dass auch sie eine Heimat hatte, nach der sie sich mit jener eigentümlichen Art von Sehnsucht sehnte, die den Wunsch nach Erinnerung, aber nicht nach Rückkehr weckt. Sie saß auf Bänken und Treppen, trank Kaffee in Straßencafés mit seltsamen Namen und nicht allzu sauberen Tischen, fotografierte die Ränder, die die Tassen auf den Tischplatten hinterlassen hatten. Sie kaufte sich indische, türkische, armenische, griechische Süßigkeiten und aß sie direkt aus der Papiertüte, während sie der Spur der Mietzimmer in vollgerümpelten Wohnungen und billigen Häusern folgte, deren Geruch ihr noch jahrelang in Erinnerung bleiben würde. Małgosia bat, bleib doch hier, Jill hat wirklich nichts dagegen, bleib doch, aber Dominika suchte schon eine Woche nach ihrer Ankunft ein eigenes Zimmer. Jill störte sie nicht, sie war sogar bereit, diese schweigsame und unscheinbare Frau zu mögen, der unentwegt etwas auslief, zerbrach oder umfiel und die nach jedem Missgeschick gleichermaßen verwundert aussah, als hätte sie in mehr als dreißig Lebensjahren nichts von ihrer Ungeschicklichkeit bemerkt. Jill mit ihrer grünlich-fahlen Haut, in ihren alten indischen Kleidern erinnerte Dominika an Małgosias Mutter, die im schmutzigen Hausmantel durch das Haus in Szczawienko irrte wie ein trübseliger Geist. Doch sie mochte die gemeinsamen Abendessen in Małgosias Londoner Wohnung, bei denen Jill die Früchte ihrer Kochexperimente servierte, die hauptsächlich aus irgendetwas Grünem, Körnern und selbstgemachter Sojapastete bestanden; sie sah gerne zu, wie Małgosia Wein in die funkelnden Gläser goss und einen Toast auf die Mädels von Piaskowa Góra und Umgebung ausbrachte und wie Jill scherzhaft sagte, dass sie leider in der Nähe von Notting Hill geboren sei, was sei schon Notting Hill in London im Vergleich zu Sandy Hill in Wałbrzych. Dominika konnte nicht länger an diesem freundlichen Ort bleiben, denn für Małgosia war er ihr Zuhause, und selbst wenn Jill demnächst gegen eine andere zerbrechliche, hilfsbedürftige Frau ausgetauscht würde, war das Wesen dieses Ortes doch Beständigkeit.
Wie sollte sie Małgosia erklären, dass sie ihren Rucksack nie ganz auspackte, weil sie noch nicht am Ziel war und nicht wusste, ob sie je dort anlangen würde, dass sie diesen wunderschönen Sessel wirklich nicht brauchte, obwohl er zum Sonderpreis und zu Sonderkonditionen zu haben war, allein die Aussicht auf einen in Raten erworbenen Besitz schien ihr so absurd wie der Kauf eines Grundstücks auf dem Mond. Bewegung und Veränderung, das Wissen, jeden Moment weiterziehen zu können, das war es, was Dominika Chmura brauchte, und sie verstand immer deutlicher, dass dieses Bedürfnis genauso ein Teil von ihr war wie die Narbe in ihrem Gesicht, die Erinnerung an den Unfall und der Geruch nach verbranntem Fleisch. Und so erstarrte sie vor Entsetzen, wenn Małgosia sagte, in einem Jahr könnten wir nach Thailand oder Kambodscha fahren. Oder wenn sie Monate im voraus eine große Weihnachtsparty plante. Dominika wusste nicht und wollte auch gar nicht wissen, was sie wo zu Weihnachten machen würde. Woher wussten die Leute solche Dinge? Warum waren sie so wichtig? Richte deine Gedanken in die Zukunft, sagte Małgosia, als zitierte sie Jadzia, streng dich an, sag, wie siehst du dich in zehn Jahren, aber Dominika lachte nur, sie richte den Blick lieber auf die Natur und denke an die Vergangenheit. Die Zukunft, Frau Doktor, wird überbewertet!
Małgosia war begeistert von Dominikas Fotos und zeigte sie ihren Bekannten, du hast Talent, sagten sie, fragten, wo sie gelernt habe, für wen sie arbeite, und zwei Leute wollten sofort einige Fotografien kaufen, denn sie richteten sich gerade neu ein. Ob Dominika ihnen Abzüge verkaufen und signieren könne? Małgosia hielt ihr Broschüren von Kunstakademien, Fotokursen und -wettbewerben unter die Nase und bat, versuch es, versuch es doch einfach, was kann es denn schaden, du schrecklicher Sturkopf! Aber Dominika fand nicht, dass sie Talent habe; Talent hatte sie vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher