Wolkenfern (German Edition)
dann noch mehr aus dieser seltsamen Prophezeiung herausgehört? Selbstverständlich wird sie nachdenken, überlegen, ob es da irgendwelche Anzeichen gab, wenn ihr etwas einfällt, wird sie sofort anrufen, verspricht Jadzia Grażynkas Tochter. Als sie den Hörer auflegte, erinnerte sie sich wieder an Grażynka auf Halinas Beerdigung, aufgedonnert wie in einer amerikanischen Fernsehserie, und verspürte die altbekannte Mischung aus Missbilligung, Sympathie und Eifersucht. Sympathie und Missbilligung konnte Jadzia Chmura einordnen, doch womit die Eifersucht zusammenhing, die sie stach wie ein Stoppelfeld nackte Füße, das war ihr nicht bewusst. Möglicherweise ging es dabei nicht nur um Grażynkas wundersam konservierte Jugend oder ihren Wohlstand, sondern um den Mut, alles hinzuwerfen, einfach so, als wären Haus, Auto, Küchengeräte, Vorhänge, Überwürfe, Schabracken, die Bettwäschekommode, Schubladen voller Seidenunterwäsche zum alltäglichen Gebrauch und auch der angetraute und nichttrinkende, lebendige und gesunde Ehemann nichts wert oder als gäbe es etwas, das mehr wert war, von dem Jadzia nichts wusste, aber dessen Existenz sie manchmal ahnte.
Jadzia hatte das unbestreitbare Vergnügen, diejenige zu sein, die die Nachricht von Grażynkas Verschwinden über ganz Piaskowa Góra verbreitete, von wo aus der Wind das Gerücht schnell in andere Stadtteile von Wałbrzych wehen würde. Es begann auf dem Balkon, wo Jadzia, die Märzsonne nutzend, ihre Wäsche aufhängte; ebenfalls beim Aufhängen der Wäsche war Krysia Śledź, unterstützt von ihrer Enkelin Pati, der ein Lutscherstiel aus dem Mund ragte. Das von der Großmutter verhätschelte Mädchen war schon so dick, dass es sich nicht mehr allein die Schuhe zubinden konnte. Krysia war jedoch der Ansicht, bevor ein Dicker dünn würde, hätte den Dünnen schon fünfmal der Schlag getroffen, und lachte über die junge Ärztin aus dem Ärztehaus auf Piaskowa Góra, die Pati Diät und Schwimmbad verordnet hatte. Ach, seufzte Jadzia, was es auf der Welt nicht alles gibt, stell dir vor, Grażynka ist verschwunden. Verschwunden?! Grażynka? Verschwunden, bestätigte Jadzia voller Genugtuung und machte eine dramatische Pause. Ist nicht aus Wałbrzych nach Deutschland zurückgekehrt, wie vom Erdboden verschluckt. Zwei Balkone darunter hörte die Lepka, die ihre Wäsche bereits aufgehängt hatte, aber jetzt hinausgetreten war, um eine Zigarette zu rauchen, das Gespräch mit. Sie stand gerne so da, rauchte und blickte nach Süden, denn irgendwo dort war Jugoslawien oder das, was davon übrig geblieben war, und dorthin in den Krieg werweißwessen gegen werweißwen war ihr Sohn Zbyszek gezogen, von dem sie seit langem nichts mehr gehört hatte. Ich fahr mal eben in den Krieg, Mama, hatte er sich verabschiedet und war verschwunden; und jetzt fischte die Lepka, aus besagtem Grund empfänglich für das Verb verschwinden in allen Konjugationen, diese Information blitzschnell aus dem Fluss der Laute heraus, die an ihr Ohr drangen. Wer ist verschwunden? Sie lehnte sich über die Brüstung und schrie nach oben, wo die Köpfe von Jadzia und Krysia erschienen, die wie aus einem Mund nach unten brüllten: Grażynka ist verschwunden! Grażynka ist verschwunden!, echote Pati zur Sicherheit und steckte sich den Lutscher wieder in den Mund, als könnte sie es nur sekundenweise ohne Süßes aushalten. Es dauerte nicht lange und ganz Wałbrzych redete über Grażynkas Verschwinden, und immer fantastischere Geschichten wurden über ihren Aufenthaltsort erdacht, denn in einem waren sich alle einig: Grażynka war freiwillig verschwunden und lebte. Sie lebte ein Leben, von dem sie selbst nicht einmal zu träumen wagten! Sie hat im deutschen Lotto gewonnen und sich ein Haus mit Swimmingpool in Mexiko gekauft, wo sie mit einem jungen Mexikaner wohnt, sie spaziert mit einem Mexikanerhut herum und hat sonst nichts an, dieses Flittchen, nur den Hut und goldene Armreifen. Der Mexikaner bringt ihr Drinks mit Schirmchen, und jeder Drink kostet so viel, dass auf Piaskowa Góra eine Familie eine Woche lang davon leben und jeden Tag Schweinekoteletts essen könnte. Diese Grażynka! Im Bikini mit schwarzer Sonnenbrille. Ach was, Mexiko, woher denn, nach Moskau ist sie gefahren!, eigentlich nach Petersburg, da ist es jetzt anders als früher, wo es Leningrad war, die Russkis, hören Sie, die haben heute solche Millionen, dass man für einen von denen zehn von unseren nehmen müsste, und das würde immer
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