Wolkenfern (German Edition)
Sara sofort aufspringt und ihr zu Hilfe eilt, sie legt den Arm um Jadzias Schultern, doch diese schluchzt noch lauter, weil ihr bei der Berührung der schwarzen Krankenschwester bewusst wird, wie lange sie von niemandem mehr in den Arm genommen worden ist. Jadzias zaghafter Traum, mit einem Kind ohne Gedächtnis wieder ganz neu anfangen zu können, zerfällt zu Staub, Dominika kann sich an alles erinnern, dieses Kind war immer so eine Spinnert-Spleenige. Sie weiß noch, dass sie in Zalesie bei Oma Zosia ihren Großvater Ignacy Goldbaum aus Amerika hatte kennenlernen sollen, auf dem Weg vom Bahnhof hatte sie im Wald Himbeeren pflücken und ihnen zum Frühstück mitbringen wollen. Diese Himbeeren, die neben dem Kreuz wachsen, sagt sie. Pasadena, so heißt die Stadt, wo Ignacy wohnt, was ist mit den beiden?, fragt sie. Mama? Als Dominika erfährt, dass das Haus in Zalesie abgebrannt ist, taucht etwas in ihr auf, das diese Leere ausfüllen könnte, wenn es nur weiter wachsen, Dichte und Farbe bekommen würde, aber es zerplatzt, bevor es eine Form annimmt. Dominika fühlt wieder nichts, obwohl sie sich an das Haus, das abgebrannt ist, in allen Einzelheiten erinnert, so wie sie sich auch genau an das Gesicht von Oma Zosia erinnern kann, die Leberflecken, die feuchten Augen, das Lächeln, die zerbröselnden Kränze für Mariä Himmelfahrt, die hinter den Heiligenbildern steckten, die Kaninchenfelle in den Schubladen, die Mäusenester darin, der Teelöffel, der gegen die Wand des Senfglases klirrte, wenn sie bei Frau Gorgolowa saßen, der Nachbarin, die sie zu Tee und diesem hübschen Dorfkuchen einlud, den sie Regenbogenkuchen nannte. Janek Kos, heult Jadzia, von Kindheit an hab ich ihn gekannt, Pilze hat er uns gebracht, unterm Nussbaum hat er Sauermilchsuppe gegessen, bitte sehr, hat er gesagt, danke schön, wer hätte das gedacht, dass der ein Brandstifter ist, ein Wahnsinniger, und Dominika erinnert sich an die fast schwarzen Dahlien und das Gesicht des Nachbarn, unbewegt wie Stein, das sie, zwischen den Blumen verborgen, beobachtet hatte. Doch sie fühlt weder Furcht und Widerwillen wie damals noch Hass, sie beginnt zu begreifen, dass sie auch keinen Zorn kennt, denn sie trägt ihre eigene Brandstätte in sich. Sie betrachtet den Kopf der Mutter, die vom Stuhl gerutscht ist und jetzt an ihr Bett gelehnt kniet. Sie sieht die dunklen Wurzeln der gelblichen Haare, die Haut dazwischen ist graurosa, geädert wie Mäuseschwänzchen. Die eingetrockneten Tropfen Haarlack sind auf den zu stark gewellten Strähnen über der Stirn verklebt, sie riecht nach etwas, das sauber, furchterregend und traurig ist, und dazwischen steigt ein kaum wahrnehmbarer, aber dennoch vorhandener Hauch von verbranntem Fleisch auf. Wenn dieser Jude nicht gekommen wäre, schluchzt Jadzia, wenn er nicht auf einmal aus heiterem Himmel aufgetaucht wäre, dann wäre nichts passiert. Hat man so was schon gesehen, dass einer plötzlich aus Amerika angereist kommt und alles auf den Kopf stellt. Alles wäre beim Alten geblieben, das Neue ist gar nicht unbedingt besser als das Alte, was brauchte sie, Jadzia Chmura, einen neuen Vater auf ihre alten Tage, nein danke. Sie hatte einen Vater, ein Kriegsheld war er gewesen, mit Apfelblüten bestreut war er umgekommen, davor hatte er mit der bloßen Hand einen SS -Mann erwürgt und zwei deutsche Schäferhunde dazu. Aber der war plötzlich aus Amerika gekommen und hatte in Janek Kos einen solchen Wahnsinn entfesselt, dass er Zofias Haus in Brand gesteckt hatte. Sind sie tot?, fragt Dominika nach, obwohl sie die Antwort eigentlich kennt. Ihre Mutter hebt den Kopf, schaut sie an und weint noch herzzerreißender.
Ignacys verwaiste Kinder in Amerika hatten Jadzia helfen wollen, als sie von Dominikas Unfall erfuhren, aber keiner konnte den anderen so recht verstehen. Jadzia brauchte einen Schuldigen, einige Zeit schwankte sie zwischen Kaplan Adaś und Jan Kos, aber wie es der Zufall wollte, waren beide außerhalb ihrer Reichweite: Adaś in Rom und Jan Kos hoffentlich in der Hölle, denn er hatte sich gleich nach der Verhaftung in seiner Zelle aufgehängt, sollte er auf ewig und alle Zeit in der Hölle schmoren, Amen. Ignacy! Wenn Ignacy nicht gekommen wäre, hätte der Wahnsinnige nicht Oma Zofia verbrannt, denn ohne Grund steckt man keinen in Brand, die Polen waren ja keine Nazis, sogar ein Irrer muss einen Grund haben, das ist die Meinung von Jadzia Chmura. Die Tochter legt die Hand auf den Kopf der Mutter, aber das ist
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