Wolkenfern (German Edition)
hast du doch nichts verloren, und das hört sich ja an, als hätte man Klöße im Mund, bläbläblä. Die BeErDe ist näher, und Deutsch wird einem in Polen immer nützen. Und natürlich hat sie recht gehabt – jetzt sitzen sie in der BeErDe. Eine Mutter hat immer recht! Jadzia weiß nicht, dass Dominika zu ihrer eigenen Verblüffung von Saras Worten mehr versteht, als sie in der Schule gelernt hat, dort hatte sie nur Lektüre und grammatische Regeln büffeln müssen, die von der lebendigen Sprache so weit entfernt sind wie ein Kuchen vom Rezept. Sara lächelt sie an, und die Grimasse, mit der Dominika antwortet, sieht aus, als kenne sie Lächeln nur aus der Theorie: Mundwinkel hochziehen, Zähne leicht entblößen, fertig. Sara erklärt, und Dominika beugt Beine und Arme, berührt die Nasenspitze mit dem Finger und tritt, wenn das Gummihämmerchen auf ihr Knie schlägt. Sie weiß, dass die Ärzte das Wichtigste nicht sehen, auch wenn sie über ihre Gleichgültigkeit und Verschlossenheit besorgt sind.
In Gedanken versucht Dominika zu potenzieren und Wurzeln zu ziehen, aber sie kommt über das Einmaleins nicht hinaus, die ganze Schönheit ist dahin. Einst trafen dreistellige Zahlen in ihrem Kopf aufeinander und explodierten wie kleine Regenbogen, und das Ergebnis der Multiplikation von 325 mit beispielsweise 768 erschien im Bruchteil einer Sekunde und war unweigerlich richtig, bitte sehr, ihr könntet es ja auf euren Taschenrechnern nachprüfen, aber man sieht doch auf den ersten Blick, dass es 249600 ist. Dominika konnte die Zahl π bis auf die zwölftausendsechshundertachtundsiebzigste Stelle nach dem Komma auswendig, jetzt stolpert sie schon bei der fünfzehnten Stelle, und alle Ziffern sind für sie nur noch das, was sie für jeden sind – alltägliche Hilfsmittel, mit denen man um zwei Äpfel und dreißig Deka Schokoladenbonbons bitten und die Fliegen an der Decke zählen kann. Vor dem Unfall hatte jede Zahl eine eigene Farbe und Form, sie konnte glänzend und fest wie ein Bonbon sein, rau wie Baumrinde, hellgrün pulsierend wie alle Zahlen mit der Quersumme sieben oder kristallklar und durchsichtig wie die Primzahlen. Die Zahlen waren Landschaften gewesen, die sich vor Dominikas Augen wie chinesische Schatullen auftaten, und deshalb konnte sie sich vorstellen, wie ihr Geburtstag aussah, der 24. Dezember 1972, der für sie ein silbriggrauer, violett und gelb gesprenkelter Tag gewesen war, wie eine von Raureif bedeckte Wiese mit den ersten Krokussen. Jetzt war nichts mehr davon da, als hätte jemand mit dem Schwamm alles wie von einer Tafel weggewischt. Dominika hat keine Ahnung, wer sie ohne die Mathematik sein wird.
Für die Ärzte ist Dominika ein interessanter Fall, sie analysieren die Untersuchungsergebnisse und studieren die Aufnahmen des Hirns, insbesondere interessieren sie sich für die Stirnlappen, wo ihre Zeigefinger und die metallenen Zeigestäbe zusammentreffen. Dort sehen sie etwas, das sie gerne messen, ergründen und erklären würden, aber das kann niemand, sie benutzen also jede Menge gelehrter Worte, sagen aber in Wirklichkeit nur: Warten wir ab, es wird sich zeigen, so oder so. In der Wissenschaft sind verschiedene Fälle bekannt, und es kommt vor, dass es der Wissenschaft zum Trotz ein Wunder gibt. Für Wunder haben sie in ihrer Eigenschaft als Ärzte nicht so viel übrig, obwohl man in einer so komplizierten Situation auch diese Möglichkeit nicht ausschließen kann. Dominika begreift allmählich das Ausmaß ihres Verlusts, aber sie kann noch nicht ganz glauben, dass man ihn überleben und weiter atmen kann, den Himmel im weißen Rechteck des Fensters, die letzten Pappelblätter, Vögel, die Mutter im fliederfarbenen Mohairpullover und die schwarze Krankenschwester mit ihrem sagenhaft ausladenden Hintern sehen kann. Sie kann nicht mehr rechnen und verspürt nicht mehr die Freude der Herausforderung wie früher, als sie davon träumte, eine weitere Primzahl zu entdecken. An die Stelle jener früheren Dominika ist jetzt jemand anders getreten, eine unbekannte Person. Ihr Kopf ist voll mit Namen von Menschen und Dingen, doch die Verbindungen dazwischen scheinen zufällig, fließend und bedeutungslos. Das alles muss man irgendwie verklammern, denkt Dominika, ein seltsamer Gedanke: Das alles müsste man nehmen und irgendwie verklammern.
Am zweiten Tag, nachdem sie aufgewacht ist, fragt Dominika rundheraus nach Oma Zosia aus Zalesie, und Jadzia bricht in so heftiges Schluchzen aus, dass
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