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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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kein Ausdruck von Mitgefühl, nur eine mechanische Geste, die zur Situation passt. Jadzia war auf Verzweiflung und Trauer ihrer Tochter vorbereitet, aber nicht auf das völlige Ausbleiben einer Reaktion, deshalb weint sie jetzt für zwei, denn erst jetzt, nachdem Dominika aufgewacht ist, kann sie über das weinen, was passiert ist. Als ihre Mutter gegangen ist, hebt Dominika die Hand an den Mund, zuerst betrachtet sie die langen Finger mit den blassen Fingernägeln, die Spuren der Einstiche auf dem Handrücken, dann drückt sie die Zähne in die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger. Es dauert eine Weile, bis sie den Schmerz spürt, erst dann fängt sie an zu weinen, aber es sieht aus, als weinten nur ihre Augen, als besännen sich diese allmählich darauf, was Tränen sind und wann sie fließen müssen.
    Das Erste, was Dominika will, ist Bewegung, es ist ein Wollen, das keinen Namen hat und zu schwach ist, um ein Lebenswunsch zu sein, als es zusammen mit dem Schmerz in ihrem seit Wochen reglosen Körper erwacht. Zuerst wird sie durchgeknetet, auseinandergezogen und aufrecht hingestellt, und als sich zeigt, dass sie nicht umfällt, lernt sie mit Saras Hilfe wieder, die ersten Schritte zu tun. Ihr Körper ist zittrig und schwach, wie aus Vogelknöchlein, die in Watte gewickelt sind anstatt in Muskeln, doch als sie einmal aufgestanden ist, will sie nicht wieder zurück in die Horizontale, sie beißt die Zähne zusammen, bis ihre Narbe auf der Wange ganz rot wird, die schwarze Krankenschwester stützt sie geschickt. Anfangs schiebt Dominika, weiß wie die Antarktis, am Arm der schwarzen Sara durch die Flure, dann mit einem Rollator, eine große magere Gestalt im Krankenhausnachthemd, mit einem Kopf wie eine schwarze Dahlie. Wenn ihre Mutter zu Besuch kommt, geht sie mit ihr. Deine Haare werden schon länger!, freut sich Jadzia, die längeren Haare stehn dir so gut, Kind, dann siehst du aus wie die Trojanowska. Alles, was ich heute will, vergiss es nicht, fliegen will ich aus deinen Armen bis zum Himmel, trällert Jadzia vor sich hin, weil ihr just dieses Lied der Trojanowska eingefallen ist. Auf und ab und noch einmal. Verschnauf doch mal, Kind, rät sie, als sie in der zweiten Woche schon kaum mit der verbissen entschlossenen Tochter Schritt halten kann, was sie als Mutter zugleich freut und wütend macht, denn man kann nicht gut von Zukunftsplänen reden, wenn man so schwitzt und keucht, dass man kaum einen Pieps herausbekommt. Als Dominika eines Tages übertreibt und ihr flau wird, fängt Sara sie rechtzeitig auf: Immer mit der Ruhe, take it easy, treib’s nicht zu toll, sagt sie und verbietet ihr vorerst, mehr als zwei Stunden zu laufen. Bald geht Dominika allein durch die weißen Korridore und addiert ihre Schritte; vergeblich sucht sie in diesem jämmerlichen Rechnen die alte Melodie, das Gefühl von Verlust schwappt wie eine graue Welle in ihr empor. Als Dominika zwei Wochen später ins Rehazentrum verlegt wird, kann sie schon allein eine beträchtliche Entfernung zurücklegen, und alle sind begeistert von den Fortschritten, die sie macht, um ihre körperliche Kraft und Gesundheit zurückzugewinnen. Tüchtiges Mädchen, bravo!, sie klopfen ihr anerkennend auf den Rücken, wo die Schulterblätter vorstehen wie Flügelschrauben. Das rechte Bein, das an zwei Stellen gebrochen war, zieht Dominika leicht nach, aber im Schwimmbad, inmitten all dieser Paralytiker, wie Jadzia sie nennt, bewegt sie sich, als hätte sie nie einen Unfall gehabt. Jadzia betrachtet die Tochter durch die Glasscheibe, die sie vom Becken trennt, und ist ein bisschen besorgt, als sie sieht, dass ein sehr dicker Mann ohne Beine in dasselbe Wasser gelassen wird, in dem Dominika schwimmt. Wenn der sich bloß vorher geduscht hat und keine Bakterien einschleppt, die ihr Kind angreifen könnten! Auch ohne Beine kann man sich doch wohl ordentlich waschen, da wo es sich gehört? Mit solchen kleinen Sorgen kann Jadzia ihre größeren Ängste verdrängen. Dominika Chmuras psychische Gesundheit ist eine unbekannte Größe. Die einen reden von einer verzögerten emotionalen Reaktion nach einem mechanisch verursachten Trauma, andere hegen die Hoffnung, dass Dominikas Verschlossenheit etwas mit der Sprachbarriere zu tun hat. Die einen wie die anderen rechnen mit der heilenden Kraft der Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden, braust Jadzia unzufrieden auf, muss man in der BeErDe auf Arzt studieren, um sich solche Scheiße auszudenken? Du musst Ruhe haben und

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