Wolkenfern (German Edition)
du?
Sara liegt im Gras und redet vor sich hin wie im Schlaf. Dominika Chmura, ich weiß, dass du mich anguckst, sagt sie, ohne die Augen zu öffnen, horch in dich hinein, Dominika Chmura, es ist Zeit, aufzubrechen. Ich weiß, sagt Dominika, ich weiß, aber jetzt halt still, ich mach grad ein Foto von einem Schmetterling auf deinem großen Zeh.
Dominika wohnt weiterhin bei Grażynka und hilft ihr im Haus. Sie kochen zusammen in dem Chaos und Durcheinander, das Jadzia die Sprache verschlagen hatte. Dominika wird immer kräftiger, sie steht bei Tagesanbruch auf und schläft bald nach Einbruch der Dunkelheit ein, umgeben von Katzen und Hunden, die sich an sie kuscheln. Im Dunkeln hört sie das leise Schnaufen und weiß, dass sie sich in Zukunft in einem Haushalt ohne Tiere nicht wohlfühlen wird. Sie liebt den Geruch und die Berührung von Katzenfell, die vertrauensvoll zum Streicheln dargebotenen Bäuche, die Pfötchen, die ihre Schenkel kneten, wenn eine Katze sich zum Einschlafen anschickt. Zu Grażynkas Haustierschar ist vor kurzem noch der Papagei Franze gestoßen. Niemand weiß, wo er sich herumgetrieben hat, bevor er mit dem gleichen untrüglichen Instinkt wie alle anderen Lebewesen zu Familie Kalthöffer fand. Eines Tages kam er einfach durchs offene Fenster geflogen, landete auf dem Tisch und sagte: Vie de merde. Alle schauten zum Fenster, aber keiner war besonders erstaunt, nur Hans zog den Teller mit seinem geliebten Eisbein auf Sauerkraut näher zu sich heran, denn es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass ihm in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit eines der Haustiere das Fleisch vom Teller stibitzt hatte. Der Papagei, knallrot und groß wie ein Huhn, sah hungrig aus, er wiederholte seine Verwünschung und trippelte dann von einem Teller zum anderen, als überlege er, was ihm am besten schmecken könnte, und entschied sich schließlich für den Kartoffelsalat, in den er seinen Schnabel versenkte. Als er gegessen hatte, raunzte er Va te faire plumer! und flatterte auf den Kronleuchter, ein wunderbares Stück voll tropfenförmiger Kristalle, das Hans persönlich in München erworben hatte, als er noch der Meinung war, Grażynkas Liebe müsse man mit Geschenken füttern wie ein Kaminfeuer mit Holzscheiten. Vie de merde, sagte der Papagei noch einmal mit schläfriger Stimme und nickte ein, während die Katzen auf den Kronleuchter starrten und sein Schaukeln mit ihren riesigen Raubtieraugen verfolgten. Grażynka und Dominika haben Flugblätter an der Kirche und am schwarzen Brett in der Bäckerei angeklebt: Achtung, Achtung, roter Papagei, ziemlich groß, auf Französisch fluchend, am 25. Mai 1990 bei Familie Kalthöffer, Soundsostraße in Mehrholtz, zugeflogen, wartet auf seinen Besitzer. Aber niemand meldet sich. Grażynka gibt schließlich dem Papagei den Namen Franze, denn so hat man sie genannt, als sie in Wałbrzych wohnte: diese Franze, verdammte Franze, liederliche Franze, alte Franze und noch schlimmer. Niemand kann dieses ziemlich hässliche Wort mit der Süße und Zärtlichkeit aussprechen, wie sie jetzt, komm, Franzelchen, komm frühstücken! Franze hat besonderen Gefallen an Dominikas Zimmer gefunden und verbringt die Nächte auf dem rosafarbenen Spiegeltisch, auf dem man sich von allen Seiten gleichzeitig betrachten kann, wenn man die Seitenspiegel entsprechend einstellt. Im Gegensatz zu Dominika, die seit dem Unfall Spiegel meidet und ihre kosmetischen Handgriffe auf das Eincremen der Narbe mit Schneckensalbe beschränkt, ist Franze anscheinend fasziniert vom Wunder des Spiegelbilds, vielleicht hält sie es für ihre lang verlorene Schwester.
Beim Aufwachen sieht Dominika Franze, die sie mit Flügelschlagen begrüßt und kreischt: putin de vie! Ihre Stimme ist so laut, dass die Katzen sich beleidigt räkeln und sich auf ihren Morgenspaziergang machen. Das Zimmer ist erfüllt von rosigem Licht, das durch die schimmernden perlmuttfarbenen Vorhänge fällt. Das ist echte Kunstseide!, hatte Jadzia bewundernd gesagt, wie die fällt! Bei uns gibt es so was nicht, unter Gierek hat’s das mal gegeben, aber man musste sich bei Merino die Beine in den Bauch stehen, bis man drankam. Dominika steht auf und geht ans Fenster, Grażynka in Leggings mit Leopardenmuster und türkisem Mohairpullover winkt ihr aus dem Hof zu, sie trägt den gefüllten Abfalleimer für die Schweine mit einer solchen Leichtigkeit, als sei es ein Abendtäschchen. Auf den Ohren hat sie Kopfhörer. Die Tage sind ruhig, voll
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