Wolkenfern (German Edition)
mit kleinen Geschäftigkeiten, es wird nicht viel geredet und wenn doch, dann ist es Grażynka, die spricht. Keine Erzählungen kommen aus ihrem Mund, nur ein besänftigender Strom von Worten, die wie Musik sind, doch man kann nicht behaupten, dass sie von nichts redet, es ist vielmehr, als könnte sie die Worte finden, die das Leben selbst zum Ausdruck bringen. Dominika betrachtet das Gesicht Grażynkas, das weder jung noch alt ist, ihren Körper, den sogar die Melodie des Regens in Tanzbewegung versetzt, von ihren Lieblingen Abba und Gloria Gaynor mal ganz zu schweigen. Du hast einen weiten Weg vor dir, seufzt Grażynka manchmal und streicht Dominika über den Kopf. Manchmal nimmt sie sie mit auf ihren abendlichen Spaziergang in den Wald, das ist ein Zeichen großen Vertrauens. Beim Spaziergang schweigen sie, denn zu dieser Tageszeit passt das Schweigen. Sie sitzen auf dem Stein, betrachten das im Dämmer schwebende Haus und atmen den harzigen Waldesduft ein, spüren, wie um sie herum die Zeit verfließt. Auf einem dieser Spaziergänge hat Dominika das Gefühl, dass etwas in ihr anspringt, als komme ein erstarrter Mechanismus wieder in Gang, als würde die Reiselust, von der Sara immer redete, ihre eigene.
Sara kennt diesen Wald. Drei Jahre zuvor hatte Grażynka sie hier gefunden. Grażynka dachte zuerst, sie sehe einen Geist auf dem Waldweg stehen, wie sollte sonst plötzlich ein schwarzes Mädchen mit gelben Haaren hier auftauchen, und sie versuchte sich sogar in Erinnerung zu rufen, was die Teetanten aus Kamieńsk und Halina Chmura in Wałbrzych in so einer Situation geraten hatten, denn im Unterschied zu diesen hatte sie, Grażynka, immer nur mit lebenden Menschen zu tun gehabt, in der Regel mit Männern. Und hier stand jetzt im Dunkeln auf einmal etwas an den Baum gelehnt, das atmet, mit den Augen funkelt, nach einer Frau aussieht, weibliche Geister hatten die Teetanten Geistinnen genannt, daran konnte sich Grażynka genau erinnern. Sie kamen zurück vom Preiselbeersammeln im Moor, und die eine sagte zur anderen: Du, diese Geistin, die wir da an der Eiche gesehen haben, war das eine von unsern aus Kamieńsk oder eine von außerhalb? Grażynka wusste nun nicht, ob sie eine Geistin oder eine Lebende da im Wald sah, und da sie sich keinen besseren Rat wusste, als sie anzusprechen, wandte sie sich an die Erscheinung mit der Frage, ob sie ihr helfen könne. Ich heiße Sara, Sara Jackson, antwortete die Geistin oder Lebende in fremd klingendem, aber fließendem Deutsch, sie habe den Pfad gesehen und querfeldein zum Bahnhof nach Mehrholtz gehen wollen, weil sie nach München unterwegs war, aber offenbar habe sie sich verirrt. Grażynka konnte im Dämmerlicht den Umriss eines Rucksacks erkennen und war sich fast sicher, dass die Fremde eine Frau aus Fleisch und Blut war, denn was zum Teufel sollte ein Geist im D-Zug nach München wollen, der sich im Schneckentempo vorwärts bewegte? Was war also passiert? Sara war am Nachmittag desselben Tages in Mehrholtz angekommen, wo sie bei Familie Korn arbeiten sollte, denn das Familienoberhaupt Adolf Korn hatte Alzheimer und war dadurch mit jedem Tag weniger oberhäuptlich im Oberstübchen. Aber sie hatten sie sofort wieder weggeschickt. Warum? Es handelte sich um ein Missverständnis, denn Familie Korn, in Gestalt der alten Frau Korn, ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter sowie des alten Herrn Korn, der, das konnten sie garantieren, hundertprozentig derselben Meinung war wie sie, hatten etwas anderes erwartet, als sie in Gestalt von Sara bekommen hatten. Nein, ihre Zeugnisse waren völlig in Ordnung, sie war diplomierte Krankenschwester und Rehabilitationskraft. Aber was war das Problem? Eine Weiße hatten sie erwartet. Sie hatten gedacht, sie würde weiß sein. Weiß sollte sie sein! Weiß? Ja, weiß. Sie wollten nicht unter einem Dach mit einer Schwarzen leben. Wenn sie woanders gewohnt hätte, wäre es ja noch gegangen, aber unter einem Dach? Es war ein Missverständnis, sagte sie, ein schreckliches Missverständnis, denn sie hatten in der Agentur genau gesagt, was sie brauchten, sie hatten natürlich nicht extra erwähnt, dass sie eine Weiße wollten, denn das verstand sich doch irgendwie von selbst. Persönlich hatten sie ja nichts gegen sie, aber sie wissen und sehen das Ihre, man braucht ja nur Fernsehen zu gucken, und schon ist klar, was es zu wissen und zu sehen gibt, wie sich die Schwarzen, Türken und Polen überall vermehren. Saras Anwesenheit würde sich
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