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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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verhängnisvoll auf den Alzheimer auswirken, dem Familienoberhaupt Korn würde sich das Oberstübchen in einem solchen Tempo leeren, dass er bald nur noch eine leere, mit grauer Haut überzogene Kugel auf den Schultern sitzen haben würde, eine Mohnkapsel, aus der Mohn herausgerieselt war. Wenn so eine schwarze Pflegerin Herrn Korn täglich wecken, waschen, füttern würde, dann ginge ihm endgültig alles durcheinander, denn das wäre ein schrecklicher Schock für den armen Alten. Das könnte ihn ins Grab bringen, bevor ihm einfällt, wo er die beiden alten Ikonen versteckt hat, die er noch von damals im Krieg gehabt hat, immer hat er davon geredet, wie wertvoll die waren und wie der Wert mit den Jahren steigt, sie sollten nur die Pfoten davon lassen, er wird sie beizeiten seinem Enkel überreichen, damit er eine Erinnerung an seinen Großvater hat. Der Enkel drängt schon auf die Welt und tritt von innen gegen den Bauch der jungen Frau Korn, weshalb sie die junge Frau Korn in regelmäßigen Abständen ans Bett des alten Korn bringen, damit sie ihm den Bauch mit Enkel vorführe, vielleicht kam ihm angesichts der werdenden Generation wieder etwas in Erinnerung. Doch der Alte sabbert vor sich hin, und nichts fällt ihm ein, irgendwo hat er diese Ikonen versteckt, das ganze Haus haben sie auf den Kopf gestellt und den Garten umgegraben. Sie haben keine Kraft mehr für ihn, für diesen Alzheimer, für dieses Windelnwechseln, deshalb hatten sie bei der Agentur eine Hilfe in Gestalt einer qualifizierten Pflegerin bestellt. Aber natürlich eine Weiße! Keine Schwarzen, Gelben oder Türkinnen. Frau Korn wollte kein Risiko eingehen und griff nach dem Telefon, es gab ziemlich viel Gezeter, denn die Agentur verlangte, dass sie Sara die Reisekosten sowie eine Entschädigung zahlte, und sie ließen sich sogar Sara am Telefon geben, obwohl doch Frau Korn das Gespräch bezahlen musste. Sara gefiel die Familie Korn nicht, trotzdem wäre sie dort geblieben, wenn sie es gewollt hätten, denn sie wusste nicht wohin und brauchte Geld. Das war eine Situation, auf die Grażynkas innerer Radar sofort reagierte: Sie fand ein Mädchen im Wald, das Hilfe brauchte, das lag doch auf der Hand, dass das kein Zufall war! Komm mit zu mir nach Hause, du kannst dich ausruhen, kriegst eine warme Suppe, und morgen kannst du dir überlegen, wie es weitergeht. Der nächste Tag kam und ging, und Sara blieb einen ganzen Monat, brachte Grażynkas Sohn Daniel das Skateboardfahren bei und Grażynka selbst die Zubereitung aromatischer Speisen, die Hans mit dem gleichen Vergnügen aß wie alles, was seine Frau ihm vorsetzte.
    Grażynka und Sara empfanden eine Art schwesterliche Verwandtschaft, obwohl sie auf verschiedenen Kontinenten geboren waren und trotz ihres großen Altersunterschieds. Sara war siebenundzwanzig, Grażynka zählte schon lange nicht mehr die Jahre und hatte außerdem zweimal in den Urkunden ihr Geburtsdatum geändert, doch mit Sicherheit hatte sie mehr als doppelt so viele Jahre auf dem Buckel. Auch als Sara eine Stelle in einem Münchner Krankenhaus fand, besuchte sie Grażynka weiterhin fast jeden Sonntag. Erst später zeigte sich, dass Grażynka Sara und Dominika eigentlich kaum etwas über sich erzählt hatte, und keine der beiden konnte sich aus den widersprüchlichen und ungeordneten Bruchstücken ihrer Geschichte ihren Lebenslauf zusammenreimen. Sara zum Beispiel hatte in Erinnerung, dass Grażynka aus Radomsko stammte, während Dominika hätte schwören können, dass sie nicht aus Radomsko, sondern aus Tschenstochau war. Der Rest setzte sich aus voneinander losgelösten Ereignissen zusammen, Männern, denen etwas fehlte, Städten, Städtchen und Dörfern, von denen nur Wałbrzych und Mehrholtz als gesichert gelten konnten. Grażynka war nicht überrascht, als Dominika ihr im Juli, bei einem der vielen Gewitter, die in diesem Sommer Mehrholtz heimsuchten, sagte, sie würde mit Sara wegfahren, unterwegs wollten sie Aniela besuchen. Daran gewöhnt, dass Männer und Kinder weggingen, streunende Hunde an die Häuser kamen, wo sie eine Ausnahmeschüssel Futter bekamen, Schweine zur Schlachtung abgeholt wurden und Katzen verschwanden, um wieder aufzutauchen oder auch nicht, betrachtete Grażynka Verlust als einen ebenso unverzichtbaren Teil des Lebens wie schöne Überraschungen. Eigentlich war es für sie eine Selbstverständlichkeit, dass das Glück vergeht anstatt zu dauern, dass Leute eher weggehen als bleiben, dass man zum Beispiel vom

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