Wolkenfern (German Edition)
auf dem Saras Auge zu sehen ist, ein Stück vom Glas mit Bier darin, Sonne und die von Sonne durchdrungenen gelben Haare. Wenn sie Patschuli fotografieren wollte, wäre es wie Sonne, Baumrinde und Gold. Seit dem Unfall nimmt sie Gerüche stärker wahr als alles andere. Die anderen Sinne kommen mit dem Geruchssinn noch nicht ganz mit, aber Dominika versucht, zu jedem Geruchseindruck ein Bild zu finden. Sie hofft, dass sie so die zersplitterten Elemente der Welt wieder miteinander verknüpfen kann: Geruch, Bild, Bedeutung. Sie sieht auch die Farben anders, so, als sähe sie jede Farbe gegen das Weiß aus ihrem Traum, gefiltert und klar, mit einem Geruch unterlegt. Dominikas Kleidung ist schwarz, grau und weiß, wenn sie eine größere Fläche Rot oder Blau sieht, schmerzen ihre Augen.
So siehst du die Welt?, fragt Sara, als sie die Bilder betrachtet, die Dominika an diesem Tag gemacht hat. Darauf sind Augen, Finger, Haare, Ohren zu sehen, aber kein mit diesen Körperteilen verbundenes Lebewesen ist ganz dargestellt. Ja, sagt Dominika lachend, so sieht die Welt doch aus, guck mal: ein goldfarbenes Brillengestell, ein fuchsienfarbener Sari, das Schwarz einer Burka, das sich in der Fensterscheibe von McDonald’s spiegelt. So sieht Europa aus, antwortet Sara und beschreibt mit der Hand einen Kreis, in dem die ganze Wiese des Münchner Parks Platz hat: Wir sind in Europa, Dominika Chmura, hier ist sehr wenig Platz. Das ist ein Rieseneintopf, ein Kessel voll mit Beinen, Augen, Fingernägeln und Ellbogen, Schuhen und karierten Taschen, teuren Koffern, Kirchen, Festungen und Bahnhöfen, vom Himmel fallen keine Schneeflocken, sondern Zug-, Autobus- und Flugzeugtickets. Sag mir, wie es riecht, wie riecht laut Dominika Chmura, der polnischen Immigrantin vermischter Abstammung, Europa? Dominika hebt den Kopf und schnuppert. Die Rasenflächen rings um die Pagode sind voll mit picknickenden Leuten, die Bier trinken, Würste essen, grillen, schwitzen. Nach angebranntem Fleisch, so riecht Europa, Sara Jackson, sagt Dominika, diesen Geruch hatte ich in der Nase, als ich im Koma lag, den Geruch von angebranntem Fleisch, ich rieche es immer noch. Alles ist davon durchdrungen, da hilft kein Dior, kein Raumspray mit Meeresbrisenduft, vielleicht hört Europa auf, nach Scheiße zu riechen, aber es riecht immer weiter nach verbranntem Fleisch. Das ist unangenehm. Sara zieht die Nase kraus. Allerdings, unangenehm, stimmt Dominika zu, sehr unangenehm. Sie schließt die Augen, legt den Kopf auf Saras Knie und schnuppert. Meat, sagt Dominika auf Englisch, und dann auf Polnisch: mięso. Fleisch, auf Deutsch. Das fleischigste Wort ist das polnische mięso, sag mal mięso auf Polnisch, bittet sie Sara. Falsch! Mię-so, nicht minso.
Ich fahre mit dir, wenn du willst, sagt Sara noch einmal. Oder du kommst mit mir, kommt ja aufs Gleiche raus, weil wir beide nicht wissen, wohin. Vorläufig hab ich keine Lust, weiter in Krankenhäusern zu arbeiten, ich hab dir geholfen, wieder auf die Beine zu kommen, das reicht erst mal, jetzt ist es Zeit zu reisen. In Deutschland sind ein paar Leute, mit denen ich mich treffen will, danach fahren wir in die weite Welt. Du bist keine Bürde für mich, nur eine Reisegefährtin. Wirklich? Ja, wirklich! Wie oft soll ich dir das noch sagen. Genau so eine Reisegefährtin habe ich mir gewünscht, eine wortkarge, klapperdürre Polin. Die ein bisschen hinkt, keine Aufenthaltsgenehmigung hat und einen Pass, mit dem man kein Visum bekommt. Keine von uns weiß, in welche Richtung es geht, alles, was wir wissen, Dominika Chmura, ist, dass wir weiter von zu Hause wegwollen. Dominika sieht ihre Freundin an und denkt ans Reisen, sie sucht die Reiselust in ihrem Kopf, aber das ist, als suchte sie eine Winzigkeit in einem Haus voller Kisten, die für den Umzug gepackt sind. Sie erinnert sich daran, dass sie sich das früher gewünscht hat – unterwegs sein, wechselnde Landschaften, die am Fenster des Zugs oder Flugzeugs vorüberziehen, Flugzeuge, die sich von der Erde erheben, fort von Piaskowa Góra, von Jadzia, Flugzeuge, die über den Wolken immer weiter fort ziehen, sie spürt, dass sie diesem Gefühl nachgehen sollte, von dem noch eine Spur erhalten geblieben ist. Wir suchen uns eine Arbeit, sagt Sara. Wir könnten zu Grażynkas Tochter Aniela fahren, die mit der Konditorei. Konditorei – das hört sich doch verlockend an, oder? Du kannst doch nicht bis ans Lebensende in einem deutschen Dorf Schweine füttern. Was meinst
Weitere Kostenlose Bücher