Wolkenfern (German Edition)
identifizieren? Wie kann man eine Leiche identifizieren, wenn man nur die lebende Person gekannt hat, mit rosa Fingernägeln und warmer Haut, unter der das Blut pulsierte! Eine Leiche identifizieren? La-Teesha fühlte, wie ein Schrei in ihr aufstieg, aber sie wusste nicht, dass kein Schrei ausreichen würde für das, was sie dort erwartete.
Shaunikas Gesicht war unangetastet, doch ihr Bauch war vom Bauchnabel abwärts aufgeschnitten, so wie man mit einem stumpfen Messer eine Melone aufschneidet, die Hautränder standen ab, sie waren dunkelrot. Getrocknetes Blut, darunter gelbliches Gewebe, der Bauchnabel, der pfeilförmig nach unten zeigte. Schere, sagte der Polizist, das war eine Schere, und La-Teesha schwieg immer noch. Sie schaute auf den Bauch ihres Kindes, der gestern noch voller Leben gewesen war, straff gespannte Haut, braun wie Zimt und nach Zimt duftend. Das Kind, sagte der Polizist, da war kein Kind mehr drin. Kind? Worin?, fragte La-Teesha, begriff, und erst dann löste sich ihr Schrei.
IV
Dominika geht aufs Dach hinaus und sitzt an die Wand gelehnt, die Arme um die Knie geschlungen. Sie kann nicht schlafen. Sie schließt die Augen, doch anstatt eines Traums erscheint der Kleine See der Spinnennixe; der mit Knochen übersäte Boden des Sees, der Geruch nach verbranntem Fleisch, der schwarze Wolga, und das alles wie ein Spiegelbild auf der schwarzen Wasserfläche. Oben brennt ein Feuer, es lodert und breitet sich über dem Wasserspiegel aus, dann brennt es Löcher hinein und fließt nach unten. Dominika weiß dann genau, dass sie nicht einschlafen kann, denn wenn sie einschlafen würde, hinge sie zwischen zweierlei Tod – durch Feuer und durch Wasser.
Und dann steht sie auf und geht aufs Dach, ganz leise, um die anderen Bewohner des Hauses an der Siebten Straße nicht zu wecken. Es ist August, die Stadt pulsiert, als wäre sie auf dem Rücken eines schlafenden Tiers mit schnell pochendem Herzen gebaut. Bis hier oben hinauf steigen der Gestank der Straße und die allgegenwärtigen Ausdünstungen der Kanalisation, doch die Luft ist etwas besser als unten. Sternschnuppen fallen, als schabe jemand dauernd kleine Stücke glitzernden Putz vom Himmel, das Dach, das in der Mitte, wo eine bräunliche Wasserlache steht, leicht eingesunken ist, scheint mit einer silbrigen Schicht überzogen, die vielleicht der Farbe der Sternenbrösel zu verdanken ist. Auf der glänzenden Fläche spiegeln sich die Lichter der Stadt und der Mond, Schatten von Flugzeugen und große braune Kakerlaken streifen darüber, Kockrohtschen, sagen sie hier in dem Haus, wo sie wohnt, an der Siebten Straße. Amerika ist das Königreich der Kockrohtschen, sie würden sogar die Atombombe überleben, und für eine, die krepiert, kommen hundert neue zur Welt, sagt Pani Stenia fluchend, und sie muss es wissen, denn seit einem guten Dutzend Jahren putzt sie Wohnungen in Amerika. Das Dach des Hauses an der Siebten Straße, wo Dominika wohnt, ist immer undicht, und das ist nicht der einzige Nachteil dieses Obdachs für arme Leute. Man findet leicht hierher, man braucht nur nach der polnischen Kirche zu fragen, und die weiß-rote Fahne, die am Mast vor dem Eingang flattert, sieht man von weitem. In dem Mietshaus an der Kirche gibt es billige Zimmer, wo diejenigen Unterkunft finden, denen nichts anderes übrigbleibt. Wenn es regnet, beginnt sich die gummierte Farbe an der Decke von Dominikas Zimmer aufzuwölben, als wüchse dort ein riesiger Pickel, wenig später hängt dort eine melonengroße Blase, die sich immer weiter mit Wasser füllt, bis sie platzt, und dann – rette sich wer kann! Der schartig geränderte Krater trocknet bis zum nächsten Regen, wenn die Blase an einer anderen Stelle erblüht, und wieder muss man Töpfe und Eimer aufstellen, um nicht zu ertrinken. Dominika fotografiert die einzelnen Phasen der Katastrophen so wie vieles andere, was sie für fotografierenswert erachtet: die grasbewachsene Verpackung einer chinesischen Mitnehmmahlzeit, ein im Schmutz festgetretenes Kinderspielzeug, ein Hörnchen mit schmelzenden Eiskugeln auf dem Gehsteig, die abblätternde Farbe auf der Wand eines verwahrlosten Hauses an der Sechsten Straße, die Füße der Menschen in der U-Bahn, ihre Hände mit Taschenhenkeln, mit Haltegriffen, andere Hände. Das Zimmer neben der polnischen Kirche im East Village ist eine von vielen Stationen auf der Wanderfahrt von Dominika Chmura, aber wenn sie nach der Arbeit hierhin zurückgeht, sagt sie: Ich geh nach
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