Wolkenfern (German Edition)
American Values einen Spalt breit offen stand und Icek Kac ihnen von drinnen ein Zeichen gab. Kommt rein! Die Tür schlug im rechten Augenblick hinter ihnen zu, der Riegel knirschte, sie hörten, wie die trappelnden Schritte des Verfolgers, der draußen vorbeirannte, in der Ferne verhallten.
In dem fensterlosen Laden brannte eine flackernde Glühbirne, deren Schein auf die Berge künstlicher Blumen und Plastikfrüchte fiel, auf ein Pandämonium der Puppen mit Glanzaugen und blondem Haar, wie sie bei den kleinen Mädchen in Bed-Stuy beliebt waren. Die Wände der Bude, die als Lagerraum diente, aber offenbar auch ein Zimmer war, denn Sofa, Stuhl und Tisch standen darin, waren mit Fotos bedeckt, Hunderten von Fotos, eines am anderen, vom Fußboden bis zur Decke. Einen Augenblick lang sahen sie einander wortlos an, bis Icek sagte: Macht es euch bequem, Nachbarn! La-Teesha sah zum ersten Mal sein packpapierfarbenes Gesicht mit den traurigen braunen Augen genauer an und stellte fest, dass sie ihn ganz anders in Erinnerung hatte – eher so wie die Juden in den Karikaturen mit ihren schwarzen Kaftanen und großen Nasen. Die nächtlichen Besucher setzten sich aufs Sofa, und Icek kochte auf dem Gasbrenner einen Kaffee, der stark war wie Ruß. La-Teesha trank ihn in kleinen Schlucken und fühlte, wie das Getränk ihr Geist und Sinne klärte, und Demarco schlief ein. Den Kopf steckte er einfach zwischen die angewinkelten Beine. Icek Kac zeigte auf die Wände und begann zu sprechen. Fotografien waren für ihn so unverzichtbar wie die Erinnerung, und er hatte sie fast zwanghaft zu sammeln begonnen. Auf jeder Aufnahme war etwas, was er mit all dem, was er verloren hatte, assoziierte. Manchmal waren es Frauen unterschiedlichen Alters, manchmal nur Hüte, manchmal auch nur die besondere Art und Weise, wie ein Schatten auf ein Gesicht fiel, er hatte eine ganze Sammlung solcher Schatten. Auf diese Weise konnte er daran glauben, dass es die Vergangenheit gegeben hatte und dass sie noch währte und er nur dank ihr am Leben war. Hatte La-Teesha die Mumien im Metropolitan Museum gesehen? Nein? Die müssen Sie sich unbedingt ansehen, wenn man so eine Mumie lange genug betrachtete, konnte man glauben, dass einst an ihrer Stelle Leben war und Blut pulsierte, sagte Icek Kac, und La-Teesha überlief ein Schauder. Mumien! Diese Juden, dachte sie, die haben doch wirklich seltsame Einfälle, obwohl es auch unter ihnen anständige Leute gibt.
Die Sonne ging an diesem Tag groß und klar auf, wie blankgebadet im Ozean, und die Leute in Bed-Stuy rieben sich die Augen und fragten sich, wie das möglich war – ein paar Stunden zuvor hatten sie gemeint, der Weltuntergang stehe bevor, und jetzt dieses Prachtwetter, dazu der Wind, der im Laub der Bäume lispelte. Einfach nicht zu glauben, und es hätte auch niemand geglaubt, wenn nicht die Straßen noch mit Glassplittern übersät gewesen wären und nicht der schwere Geruch nach verbranntem Gummi die Luft erfüllt hätte. Der Laden an ihrer Straßenecke war schon geöffnet, La-Teesha kaufte ein kleines Paket Toastbrot, Erdnussbutter und ein Glas Traubengelee im Sonderangebot. Sie dachte daran, wie sie Shaunika alles erzählen würde und wie sie gemeinsam überlegen würden, auf welche Weise sie sich Icek Kac erkenntlich zeigen könnten, vielleicht würde sie ihm einen Kuchen aus Pecannüssen backen, aber zuallererst würde sie ihrer Tochter den Kopf waschen wegen all der Aufregung, die sie ihr bereitet hatte. Als sie die Polizisten vor ihrer Tür warten sah, und als die Polizisten fragten, ob sie die Mutter von Shaunika Jackson sei, verlor sie auch noch nicht die Hoffnung. Sie verlor sie nicht einmal dann, als man ihr sagte, im Park an der Nostrand Avenue habe man ein etwa achtzehnjähriges Mädchen gefunden, sie war schwanger, trug ein rotes Kleid, hatte kurzes krauses Haar. Ist sie tot? Noch im Polizeiauto wiegte sich La-Teesha in dem Glauben, es handele sich um einen Irrtum, die Polizisten hätten falsch identifiziert. Es gab viele schwangere Teenager in Bed-Stuy, viele rote Kleidchen. In der Eile, bei schlechter Beleuchtung ist das schnell gesagt – Shaunika Jackson, und dann macht man große Augen, dass es doch nicht so ist, dass es sich um ein ganz anderes Mädchen handelt. Die Leichenhalle in Bed-Stuy: Hier herrschte Kirchenkälte, und es roch ein bisschen wie im Laden von Icek Kac, nach Chemie und nach etwas, das trotz der Kälte in Fäulnis überging. War sie bereit, die Leiche zu
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