Wolkenfern (German Edition)
Hause. Sie sagt das nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern auch aus dem immer stärker werdenden Gefühl heraus, dass sie stets nur ein vorläufiges Zuhause haben wird.
In ihrem winzigen Zimmer hat ein Bett Platz, ein Regal, ein Miniaturkühlschrank, einer von vielen nützlichen Gegenständen, die Dominika auf der Straße gefunden hat. An den Dingen interessiert sie nur ihre Verwendbarkeit und ihre Eignung für Fotografien, das Anhäufen von Gegenständen erscheint ihr in ihrem Nomadenleben sinnlos. Im Unterschied zu den Fundstücken, die die Bergleute aus ihrem Heimatort Wałbrzych früher von den deutschen Straßen aufklaubten und mitbrachten, sind die hiesigen Dinge selten ganz und vollständig; sie sind durch viele Hände gegangen, bevor sie von wieder anderen Händen vom Gehsteig aufgehoben werden, und alle behandeln sie stiefmütterlich. Manche Dinge wandern so seit Jahren durchs East Village; gelegentlich schleift einer sein Fundstück bis zur Bowery oder in die andere Richtung, zum Union Square, und eh man sich’s versieht, taucht ein alter Stuhl, eine Rattankommode oder ein mit den Aromen von Knoblauch und Curry durchtränkter Wok, der schon für manchen das Essen gegart hat, in der Neunten Straße oder am Tompkins Square wieder auf, um einen neuen Besitzer zu finden. Abgelegte Kleidungsstücke hängt man hier auf die Staketen der Eisenzäune, wo die Pullis, Hemden und Hosen wie leblose Geschöpfe baumeln, deren Gliedmaßen im Wind hin und her wehen, bis sie jemand abhängt, ins Licht hält, um sie auf Flecken und Löcher zu prüfen, und sie dann mitnimmt oder nicht. Trotz des fast immer geöffneten Fensters und der Räucherstäbchen mit Patschuli-Duft ist das Haus an der Siebten Straße getränkt von einem nicht auszumerzenden Geruch nach Trockenpilzen, als lägen sie seit Jahren vergessen in irgendeiner Speisekammer und hätten sich in die Wände und den löchrigen Fußboden gefressen. Dominika sucht nach Bildern, die diesem Geruch entsprechen, und macht Fotos: verschwommene Ablichtungen von Dingen, Fragmente von Gesichtern und Körpern, die einst unversehrt waren, jetzt aber nicht mehr zu retten sind. Im Haus in der Siebten Straße lassen die Mieter ihre Schuhe draußen vor der Tür stehen. Dominika fotografiert sie: unansehnliche, unmodische Schuhe, die dort im Flur sitzen wie ins Tierheim abgeschobene Tiere, die keine Aussicht mehr haben, ein neues Zuhause zu finden.
Auf demselben Stockwerk wie Dominika wohnt Familie Malec mit drei Kindern und, in zwei kleineren Zimmern rechts und links von Dominika, die betagte Pani Stenia und Pani Hania, eine Frau mittleren Alters, die sich aber noch jung fühlt. Familie Malec mietet den größten Raum, sie haben über dreißig Quadratmeter für sich, ein wahrer Luxus, nur passt leider das älteste Kind, die siebenjährige Jeannette, nicht mehr in ein Bett mit den jüngeren Geschwistern, und letztens mussten sie ihr ein eigenes kaufen. Das hat den Lebensraum von Familie Malec beschnitten, und Pani Malec seufzt jetzt noch öfter, wie herrlich es wäre, Richtung Upper Manhattan zu ziehen, worauf Pan Malec unweigerlich antwortet: Warte noch ein bisschen ab, Mäuschen, bald ist es so weit. Pani Malec findet es schon an der Vierzehnten Straße ziemlich schön, dort geht sie sonntags mit den Kindern spazieren und bewundert die Projekte, wie man hier die Blocks des Sozialen Wohnungsbaus nennt. Wenn man mal so eine Wohnung bekäme, dann könnte man sich höchstens noch über die Nachbarn beschweren, denn in die Sozialwohnungen stecken sie alle durcheinander, Weiße und Schwarze, Braune und Schlitzaugen, seufzt Pani Malec; sie fürchtet diese Vielfalt der Kinder wegen, aber auch wegen Pan Malec, der sich gern nach den Latinofrauen in kurzen Röckchen umdreht. Er sagt dann zwar: Guck dir mal die da an, Mäuschen, bei der kann man ja den halben Arsch sehen!, aber Pani Malec weiß, dass er das nicht in aufrichtig verurteilender Absicht sagt, denn sein Blick heftet sich sogleich an den nächsten runden Arsch, wie Pani Malec nie einen gehabt hat und wahrscheinlich auch nie haben wird. Noch besser als an der Vierzehnten Straße wäre es Pani Malec’ Meinung nach in New Jersey, denn dort könnten sie sogar ein ganzes Haus für sich haben, jawohl, New Jersey, das ist Grün, gesunde Luft, lauter Villenviertel. Pani Malec hat von Polen gehört, die es geschafft haben, sich in New Jersey niederzulassen, eine Familie kennt sie sogar persönlich, die dort ein Haus hat und eine eigene
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