Wolkenfern (German Edition)
doch in einer Zivilisation, in Europa. Doch schließlich kam ein Mittwoch, an dem Feliks Meisels sagte: In einer Woche fahren wir, alles ist geregelt. Seine Tochter legte ihr Buch beiseite – Joyces Ulysses , dessen Lektüre ihr kein besonderes Vergnügen machte, seine Frau erstarrte mit erhobenen Händen über den Tasten des Flügels, und in der Wohnung an der Studencka Straße machte sich eine Stille breit, als wären sie schon fort. Am nächsten Tag bereiteten Mutter und Tochter ein Abschiedsessen vor und erinnerten sich Władzias. Ach, wenn doch Władzia hier wäre, sagten sie, wie viel einfacher wäre es dann, den Rinderbraten zuzubereiten, die Suppe mit Blätterteigeinlage, die Nachspeisen. Eulalia betrachtete ihre Mutter gerührt, erst jetzt sah sie die kleinen fächerartigen Fältchen um ihre Augen, die nicht mehr ganz makellosen Zähne und die Trauerfalten, die die Tränen der letzten Monate in ihr Gesicht gegraben hatten. Der Abend kam, Alina Meisels sah wieder makellos aus im schwarzen Kleid und mit Perlenkette, Eulalia hatte ihr Buch auf den Knien, und obwohl sie vor Traurigkeit und Angst sich nicht aufs Lesen konzentrieren konnte, fühlte sie, dass die Außergewöhnlichkeit dieses Abends darin bestand, dass sie den vertrauten Ablauf früherer Abende wiederholten, denn das, was sie feierten, war ihr Leben in dem Haus an der Studencka Straße und nicht sein Ende. Dieses Konzert ihrer Mutter blieb Eulalia Barron besonders gut in Erinnerung, später erinnerte sie sich daran klarer als an alles, was sie selbst erst am Vortag gemacht hatte. Die Mondscheinsonate, die Nacht, an die sie nicht denken wollten, draußen vor den geöffneten Fenstern, ihr Vater so elegant, obwohl er sich beim Rasieren geschnitten hatte und auf seiner Wange ein Blutfleck war, das scharfe Profil ihrer Mutter gegen das Dunkel. Frau Estera, Herr Ludwik, Herr Benek mit seiner Frau Anna, Frau Sura und Herr Jan, Herr Natan und Frau Eva. Niemand sprach von der Flucht, niemand sprach vom Krieg, man lobte die Savarins mit Johannisbeeren und Vanillecreme, der Kaffee duftete immer noch nach Kardamom. Erst beim Abschied wollten die Umarmungen kein Ende nehmen, die Hände nicht voneinander lassen, und Frau Estera begann plötzlich zu husten, zeigte auf ihre Kehle, sie habe sich verschluckt, daher die Tränen, sie fasste nach der Hand ihres Mannes Ludwik, und schluchzend lief sie die Treppe hinunter, was bei ihrer Körperfülle eine beachtliche Leistung war.
Danach war alles nur noch Flucht. Eulalia war rasch erschöpft von den Nächten an Orten, die zugleich gesichtslos und schrecklich waren, und der erste, der ihr haften blieb war Kowno. In Kowno gab es einen Fluss, sogar zwei Flüsse, dieser Anblick machte ihr Freude, denn in allen Städten wird sie in Zukunft Krakau suchen, durch das die Weichsel fließt. Bei der Ankunft in Kowno war Alina schon sehr krank, und kaum hatten sie ein Krankenhaus ausfindig gemacht, das bereit war, sie aufzunehmen, verlor sie das Bewusstsein. Eulalias Mutter war krank geworden, sobald sie Polen verlassen hatten, obwohl sie früher nichts gegen Reisen zur Kur oder nach Wien gehabt hatte. Jetzt jedoch wurde ihr Körper von Schwäche heimgesucht und schrumpfte in dem Maße, in dem die Entfernung zu Krakau wuchs, und als sie die Außenbezirke von Kowno erreichten, sah sie aus wie eine Greisin, deren Gesicht von braunen Flecken übersät war. Als man sie ins Bett legte, schaute sie ihren Mann und ihre Tochter an, öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, benetzte dann aber nur die rissigen Lippen mit der Zungenspitze und schloss die Augen. Sie warteten drei Tage und wiegten sich in der Illusion, der tiefer werdende Schatten auf ihren Wangen und die Bläulichkeit ihrer Lippen würden vorübergehen wie eine leichte Erkältung, denn schließlich waren sie ja auf der Flucht und mussten weiter. Eulalia begriff allmählich, dass ein Mensch auf der Flucht ganz und gar Fliehendes ist, die Beine und Arme, der Kopf und die Erinnerungen fliehen, mit ihnen der Rucksack, das im Saum eingenähte Bargeld, und wenn ein einziger Teil sich dem Fliehen versagt, ist die Tragödie da, denn alles ist gleichermaßen wichtig, die Erinnerungen genauso wie die Papiere. Während dieser Reise prüfte sie immer wieder die Seitentaschen des Rucksacks und tastete die Verstecke in ihrer Kleidung ab, doch konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass sie etwas vergessen hatte aus Krakau mitzunehmen, etwas, das wichtiger war als alles andere.
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