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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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Yokohama, Kobe, Surinam, Curaçao, denkt Eulalia und bringt ihr Gepäck in Ordnung. Den Rucksack mit den Sachen der Mutter müssen sie hierlassen, Eulalia ist viel kleiner und fülliger, weder die zwei Samtröcke noch die Organzabluse kann sie brauchen, Yokohama, Kobe, Surinam, Curaçao, denkt sie, später werde ich weinen, jetzt müssen wir aufbrechen. Wir müssen aufbrechen, sagt sie zu ihrem Vater, und plötzlich wird ihr bewusst, dass sie sich in all den Jahren fast nur über ihre Mutter verständigt haben, denn durch sie floss ihre gegenseitige Liebe wie ein belebender Bach. Und Eulalia liest, stellte Feliks fest, wenn er in den Salon kam, wo Eulalia und ihre Mutter im bernsteingelben Licht des Nachmittags saßen; sie hat den ganzen Nachmittag gelesen, erwiderte die Mutter, und die Tochter wandte sich ihr mit einem Lächeln zu, das dem Vater galt; Papa hat wieder zu lange in der Kanzlei gesessen. Wir müssen aufbrechen, sagte Eulalia noch einmal, doch Feliks Meisels saß mit gesenktem Kopf da, seine Hände hingen zwischen den Knien herab, und er wollte nicht mehr von der Bank aufstehen, als gäbe es für ihn nur noch dieses Sitzen. Der Abenddämmer fiel, und die Gaslaternen gingen an. Eulalia kniete sich vor ihren Vater und sah ihm in die Augen, zwei dunkle Seen, in denen sich die Flamme der Laterne spiegelte. Nein, nein, mein Töchterchen, flüsterte er. Als sie am nächsten Tag zur Botschaft kam, erfuhr sie, dass der Konsul gerade abgereist war, doch ein junger, etwas gebückter Mann sagte ihr, es gebe noch Hoffnung, sie könne Herrn Sugihara noch auf dem Bahnhof erwischen. In einer halben Stunde gehe sein Zug. In einer halben Stunde? Eulalia, die in ihrer Kindheit so mager gewesen war, war jetzt eine ziemlich füllige Frau mit kurzen X-Beinen. Das würden sie nicht schaffen! Sie solle rasch auf sein Fahrrad springen. Ein Fahrrad? Der Mann hatte ein freundliches, intelligentes Gesicht und trug eine runde Drahtbrille. Ich bin aus Wieliczka, sagte er, und fürs Erste reichte diese Information. Wieliczka war nicht Surinam, Kobe oder Curaçao. Eulalia setzte sich unbeholfen auf die Stange, und los ging’s. Eine Menschenmenge belagerte den Zug, aus dessen einem Fenster der Kopf von Konsul Sugihara schaute, er stellte noch Visa aus, als der Zug schon aus dem Bahnhof von Kowno rollte, und die Leute rannten neben dem anfahrenden Zug den Bahnsteig entlang, streckten die Hände aus und schrien ihre Namen aus Krakau, Wieliczka, Tschenstochau, Radomsko, Piotrków, Będzin, Izbica. Eulalia Meisels war so außer Atem, dass sie in Tränen ausbrach, sie war eine der Letzten, die einen Stempel von Konsul Sugihara bekam, sie und Leo Barron, der sie zum Bahnhof gefahren hatte. Eulalia wird ihn nie vergessen, diesen Lauf über den Bahnsteig in Kowno, der zu ihrer Natur so gar nicht passte und einmalig blieb. Jahre später wird sie interessiert die starken, durchtrainierten Frauen betrachten, die im Park in der Nähe ihrer New Yorker Wohnung joggen. Jahr um Jahr wird sie auf ihrer Bank sitzen, ein Buch auf den Knien, und den Joggerinnen mit den Blicken folgen: Holla, das geht ja gan z schön schnell, die hätte auch den Zug eingeholt, die hätte bestimmt ihr Visum von Konsul Sugihara bekommen. Das dachte sie auch, als sie Dominika Chmura sah, die ihr auf den ersten Blick gefiel. Auf solchen Beinen, dachte Eulalia Barron, hätte sie den Hundert-Meter-Sprint gewonnen, der auf dem Bahnhof in Kowno stattgefunden hatte und ihr Leben veränderte. Es gelang ihr, den immer störrischeren Vater nach Japan zu schleifen, doch von dort ließ er sich nirgends mehr hinbewegen, und als er in einem der wenigen hellen Momente des Kontaktes mit der Wirklichkeit Leo Barron registrierte, den netten, leicht gebückten Mann, der sich in Eulalia verguckt hatte und mit ihnen reiste, verschloss er sich ganz und zog sich endgültig in sich zurück. Nein, nein, mein Töchterchen, sagte er immer wieder, wenn sie versuchte, ihn zu etwas mehr Anteilnahme am Leben zu bewegen. Eulalia hatte die Trauer nach dem Tod der Mutter in die tiefsten Tiefen ihres Herzens gestopft, wo sie wie eine versteinerte Larve überdauern sollte, und entdeckte unter ihrem für Dauerleser typischen phlegmatischen Wesen die Fähigkeit zu handeln und sich in Krisensituationen selbst zu helfen. Sie regelte tausend Dinge, besorgte Essen, das halbwegs an das erinnerte, was man bei ihr zu Hause in der Studencka-Straße in Krakau unter Essen verstanden hatte, und kaufte sogar ein Teeservice

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