Wolkenfern (German Edition)
Angst, es zu vergessen, oder als hätten sie die Hoffnung, die Wiederholung würde diese unerhörten Orte, die zu besuchen sie nie im Sinn gehabt hatten, wahrscheinlicher machen. Warum bloß sollte beispielsweise einer aus Krakau nach Surinam oder Curaçao fahren, was hatte ein Lateinlehrer aus Radomsko in Yokohama verloren? Yokohama, Kobe, Surinam, Curaçao, flüstern die Frauen und fragen sich, was man dort wohl an Nahrungsmitteln bekommt und was man daraus wird kochen können, so wie Eulalia prüfen sie die findigen Verstecke mit Geld, Wertsachen und Andenken, zwischen den Seiten von Büchern flattern Fotos heraus, aus den Strümpfen ragen Silbergabeln wie Schienbeinknochen. Eulalia spürte, wie die Flucht ihren Körper angriff wie ein Virus, sie, die immer so ruhig gewesen war, zappelte jetzt sogar im Sitzen mit den Beinen, ihre Hände mit den kurz geschnittenen Fingernägeln waren in ständiger Bewegung, als wollten sie auf eigene Faust fliehen. Feliks hingegen war völlig erschlafft, er war so schnell gealtert, dass man ihn für seinen eigenen Vater hätte halten können, und verließ das Krankenhaus nicht, wo er über die in immer tieferen Schlaf versinkende Alina wachte. Eulalia lief allein durch ganz Kowno zur japanischen Botschaft, die man schon von weitem an dem Gedränge vor ihrem Eingang erkannte. Eine wogende Menge Juden, die plötzlich nach Japan reisen wollten! Eulalia, die sich nicht für Politik interessierte und vor allem in einem ruhigen Haus ihre Bücher lesen wollte, fühlte, wie in ihr ein bislang nur lauwarmer Zorn zu kochen begann. Weder an diesem noch am folgenden Tag gelang es ihr, ein Visum zu bekommen, und am Nachmittag des dritten Tages starb Alina Meisels, die vielleicht die beste Interpretin der Mondscheinsonate in ganz Krakau gewesen war. Seitdem konnte Eulalia niemand mehr weismachen, dass ein Mensch nicht an gebrochenem Herzen stirbt, obwohl der Arzt in Kowno sie überzeugen wollte, eine geplatzte Zyste habe zu einer Bauchfellentzündung geführt. Ihren Tod hätten sie zu Hause sicher anders erlebt, wo alles seinen Platz hatte, wo jedes Buch seine eigenen paar Zentimeter auf dem Regal hatte, die Löffel in ihrer Schublade lagen, die Wäsche in ihrer Kommode, die Tränen in der Einsamkeit und die Musik im Salon ihren Platz hatten – doch hier mussten sie sich um praktische Dinge kümmern, und zum ersten Mal fühlte Eulalia, dass sie trotz allem wirklich überleben wollte, und dieser Wunsch war sogar stärker als die Trauer um die Mutter. Diese phlegmatische Frau, an der alle Verrücktheiten der frühen Jugend vorübergegangen waren und neben der jede Leidenschaft, die stärker war als das Lesen, praktisch unbemerkt blieb, diese Frau spürte, wie unter ihrem Brustbein etwas einrastete wie ein Schloss. Als alles vorbei war – alles war in diesem Fall ein hastiges Begräbnis auf einem fremden Friedhof –, wurde die von Natur aus zurückhaltende und nie gierige Eulalia Meisels so hungrig, dass sie ein ganzes Kalb hätte verschlingen können, drei Karpfen mit Rosinen, eine Schüssel Zimmes und drei Schalen Krakauer Grießbrei mit kandierten Früchten, was sie zu Hause in der Wohnung an der Studencka Straße immer kandidelte Früchte genannt hatten, weil sie das als kleines Mädchen zu sagen pflegte und damit diesen Ausdruck prägte. Sie fand keine kandidelten Früchte, doch in der Konditorei an der Ecke einer Straße gab es mit Pflaumenmus gefüllte Hefewecken. Eulalia stellte sich am Ende einer langen Schlange von Käufern an und kaufte dann so viele, dass sie aus der Papiertüte kugelten. Gebückt und still trippelte der Vater gehorsam neben ihr her und schnäuzte sich alle paar Minuten in ein großes weißes Taschentuch. Sie setzten sich auf eine Bank in einem kleinen Park, rings um sie spielten Jungen Reifentreiben, sie wirbelten mit ihren Stöcken und Reifen große Staubwolken auf und erschreckten die Tauben. Feliks Meisels wollte nichts essen, doch seine vornehme Tochter verschlang einen Wecken nach dem anderen und leckte sich den weißen Zuckerguss von den Fingern. Sobald wir unser Visum bekommen, fahren wir mit der Eisenbahn durch Sibirien, erklärte sie ihrem Vater. In Wladiwostok warten wir auf einen Dampfer nach Japan. Japan?, fragt Feliks, schaut seine Tochter an und erkennt sie nicht wieder, denn seine Tochter, und dieses Bild wird ihm viel vertrauter bleiben, sitzt im Schaukelstuhl, liest, und die Sonne scheint durchs Fenster und auf ihr helles Haar unbestimmter Farbe.
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