Wolkenfern (German Edition)
genug für ihre Fahrkarte, sie hat sogar ein kleines Startkapital. Es tut ihr weh, das Mädchen zurückzulassen, das sie inniger lieb gewonnen hat als ihre Schwestern, die ja in die weite Welt hinausgezogen sind, doch Władzia weiß, dass das Leben aus Trennungen und Abschieden besteht und aus dem, was dazwischen ist. Sie wollte Eulalia etwas schenken, aber sie wusste einfach nicht, was, denn dieses kleine Mädchen bekam dauernd mehr geschenkt, als ein einzelnes Kind jemals brauchte. Władzia ging also zum Fotografen und ließ sich in dem fast neuen dunklen Mantel mit Pelzkragen, den sie von Frau Meisels bekommen hatte, und dem ebenfalls geschenkten Hut fotografieren. Sie war nicht besonders zufrieden, denn sie sah auf dem Bild so alt aus, als sei das Foto zwanzig Jahre voraus in die Zukunft geeilt, und zudem wirkten ihre blonden Haare dunkel, fast schwarz. Doch was sollte sie machen – ihre Sparsamkeit hielt sie davon ab, ein weiteres Bild machen zu lassen, und sie schenkte Eulalia Meisels das, was sie vom Fotografen bekommen hatte. Als sie, Eulalia Barron, Jahre später vor dem Aufbruch zu ihrem sonntäglichen Spaziergang im Central Park einen Blick auf ihr Spiegelbild wirft, sieht sie die Gestalt auf der vergessenen Fotografie vor sich, die ihren Blick erwidert. Eulalia ist zu der Frau von dem Bildnis aus Krakau geworden, als wäre es eine Prophezeiung gewesen.
Nach Władzias Abreise kommt eine Haushaltshilfe nach der anderen in die Wohnung an der Studencka Straße, aber keine ist so wie Władzia Dziurska. Ohne deren Gesellschaft wird Eulalia sehr schnell erwachsen, denn eigentlich war das Dienstmädchen der einzige Mensch, der sie als Kind behandelte. Für den Vater ist sie ein Miniaturerwachsener weiblichen Geschlechts, in dessen Gesicht er vergeblich nach den Zügen seiner geliebten Ehefrau sucht. Auch Alina Meisels bemerkt nicht so recht die Ähnlichkeit, die sich unter der Andersartigkeit ihres unscheinbaren Kindes verbirgt, während Eulalia, wohl ähnlich wie sie, einfach etwas anderes will als das, was man als angemessen für das Mädchen erachtet: Sie will einfach in Ruhe gelassen werden, damit sie lesen kann. Immer mit Buch!, stellt ihr Vater fest, und es war schwer zu sagen, ob dieser Ausruf Erstaunen, Missfallen oder Bewunderung zum Ausdruck brachte. Die Tochter blickt indessen aus ihren Augen unbestimmbarer Farbe zu Feliks Meisels auf und lächelt, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht.
Eulalia las sogar während der Hauskonzerte ihrer Mutter, doch kein einziger Gast fand das ungehörig, denn jeder sah bald, dass ein Buch so unverzichtbar zu Eulalia gehörte wie der Flügel zu Alina. Eulalia ging zur Universität, studierte mehrere Semester Literaturgeschichte, danach las sie wieder und ging immer seltener aus dem Haus. Feliks Meisels arbeitete, die Dienstmädchen räumten auf, machten Einkäufe und kochten, die Farne wuchsen, die Mutter spielte Klavier und gab den Kindern und später den Enkeln ihrer Freundinnen Klavierunterricht, und die Tochter las immer noch, das Leben im Haus an der Studencka Straße lief langsam und ohne größere Konflikte. Es herrschte dort jenes stille Glück, das man erst dann zu schätzen weiß, wenn man es verloren hat.
Für Eulalia trat der Anfang vom Ende ein, als die letzte Haushaltshilfe, die über keine einzige der erforderlichen Fähigkeiten verfügt hatte, verschwand und dabei einen ganzen Satz Tafelsilber sowie aus unerfindlichen Gründen eine braune Cicero-Büste mitgehen ließ. Geht ins Ausland!, sagten die Bekannten ihnen, ihre Augen funkelten dabei wachsam wie bei Tieren. Was macht ihr noch hier?, wunderten sie sich, wenn sie eine Woche später Alina und Eulalia wieder in den Planty spazieren gehen sahen, Flüchtet! Feliks wanderte nachts durch die Wohnung und seufzte so tief, dass graue Staubflusen und die vertrockneten Blätter der verwelkenden Farne unter den Möbeln hervorwehten, denn in der Wohnung an der Studencka hatte schon lange keiner mehr gefegt, und schließlich sagte er: Wir fliehen. Da bat Alina um zwei Wochen Aufschub, danach noch um eine weitere. Selbst als die Gefahr schon so nah war, dass man abends den Gestank nach Brand roch, der ganz Europa auf Jahre einhüllen sollte, konnten Alina und Eulalia noch nicht an Wirklichkeit und Ausmaß des Bösen glauben. Noch ein bisschen, noch einen Tag, noch zwei, flehten sie Feliks an, vielleicht geht das alles vorbei, es hört auf und entpuppt sich als ein riesiges Missverständnis, wir leben
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