Wolkenfern (German Edition)
und Eulalia überlief ein Schauer bei dem bloßen Klang der Worte »in die weite Welt hinaus«, die in ihr die Vorstellung von etwas weckten, was sie noch nie gemacht hatte, von etwas, das verlockend und schrecklich zugleich war. Bitte, Władzia, erzähl mir von deinen Schwestern, erzähl mir, wie sie in die weite Welt hinausgezogen sind! Ihr gefällt der Name Jasna Góra 3 , und sie stellt sich vor, dass die Kirche auf dem Gipfel des Berges aus Glas ist und in der Sonne so leuchtet, dass man blinzeln muss, und wenn man in der Kirche ist, sieht man den Himmel, die über dem Dach dahintreibenden Wolken oder die Regentropfen, die darauf fallen. Familie Meisels geht weder in die Kirche noch in die Synagoge, wird jedoch zu den religiösen Feiertagen von Verwandten eingeladen, die gelegentlich bemerken, der Meisel’sche Großvater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er seine gottlosen Nachkommen sähe. Dann versetzt Feliks, der fromme Großvater, der Rabbiner war, habe schon für sie alle auf Vorrat gebetet und das reiche. Die kleine Eulalia war von Kirchen und Bethäusern gleich welcher Art fasziniert, Hauptsache, es gab viel Zierrat und möglichst viel Weihrauch und Kerzenschein. Manchmal nahm Władzia sie mit in die Marienkirche, wo die Malereien das Kind so überwältigen, dass es ein wenig an der frischen Luft draußen sitzen muss, weil ihm schwindlig ist und es wieder Schluckauf bekommen hat. Eulalia stellt sich vor, dass die Dziurska-Schwestern aus Tschenstochau nach Jasna Góra gingen, um zu beten, und danach setzte sich jede in ihre Kutsche, und hui!, da fahren sie in die weite Welt hinaus, die Kutscher knallen mit der Peitsche, und die Hufe der Rösser schlagen auf die Pflastersteine. Eulalia ist in derselben Stadt geboren wie ihre Eltern, deren Brüder und Schwestern auch hier leben, und deren Kinder, die Cousinen und Cousins Eulalias, wachsen alle in ihrer Nähe auf. Eulalia denkt, dass sie auch in Krakau wohnen wird, denn hier ist ihr Platz. Ihren eigenen Platz haben, dort bleiben und lesen, von fernen Reisen lesen, von Sirenen, Zyklopen, von Scylla und Charybdis – mehr will Eulalia nicht, als Władzia ihr zum ersten Mal die Odyssee vorliest. Dann wirft Władzia ihren strohblonden Zopf über die Schulter und sagt, ihre älteste Schwester, Jadwiga, habe einen Müller geheiratet, sie wohne irgendwo bei Skierniewice, und vielleicht würde sie einmal zu ihr fahren, doch wohin die anderen gegangen sind, das weiß sie nicht. Wirst du auch heiraten?, fragt Eulalia Władzia, die antwortet, nein, mit einem Mann habe sie es nicht eilig, zuerst wolle sie nach Amerika fahren und ihren Weg machen. Dann gehst du weg von mir? Nein, ich bleib bei dir, bis du noch etwas älter bist, versprach Władzia Dziurska und hielt ihr Wort.
Als Eulalia elf ist – sie sieht jünger aus, wirkt aber ihrem Benehmen nach älter –, lesen sie Madame Bovary zusammen, doch die Rollen sind nun umgedreht, Eulalia liest Władzia vor, denn das Buch, das Alina Meisels gehört und in der letzten Zeit ihr Lieblingsbuch ist, ist auf Französisch geschrieben. Das Mädchen liest und übersetzt Władzia gleich ins Polnische, ein paar Wörter versteht sie selbst nicht, aber das macht nichts, denn sie denkt sich blitzschnell etwas aus. Eulalia freut sich an ihrem Können und daran, wie erwachsen sie ist. Władzia ruht aus, eine, vielleicht sogar zwei Stunden muss sie überhaupt nichts tun, das ist und bleibt ein seltener Luxus in ihrem Leben. Das Buch gefällt ihr sogar, obwohl sie um nichts in der Welt verstehen kann, was diese Emma wollte, was fehlte ihr denn, wo sie doch ein eigenes Haus hatte mit eigener Küche und eigenem Garten, und dieser Doktor, der schien doch ein ganz anständiger Mann zu sein, er schlug sie nie. Sie, Władzia Dziurska, hätte in Emma Bovarys Haus alle Hände voll zu tun, höchstens abends, nach dem Abendessen, würde sie sich ein Weilchen an den Kamin setzen, vor allem, wenn man nicht am Brennholz sparen musste. Sie sind gerade bei Emmas erstem Treffen mit Rudolf, als Władzia sagt, dass sie bald nach Amerika fahren wird. Da lassen sich die Tränen nicht zurückhalten, auch wenn man schon elf ist und ziemlich gut Französisch und Englisch kann, denn Eulalia Meisels hat außer diesem Mädchen mit den stachelbeerfarbenen Augen nicht viele Freunde. Nun kommt heraus, dass Władzia ihre Sparsamkeit, die andere Dienstmädchen immer neidisch betrachtet hatten, mit Bedacht und Konsequenz gepflegt hat. Władzia hat nicht nur
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