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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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Juden werden damals bereits gewusst haben, dass in der japanischen Botschaft in Kowno ein Konsul saß, der gemeinsam mit seiner Frau wie ein Verrückter Transitvisa ausstellte, zwanzig, dreißig, fünfzig Visa in der Stunde, von denen die Hälfte Familienvisa waren, die mehr als eine Person retteten. Diese stellte Herr Sugihara am liebsten aus, tagelang saß er an seinem Schreibtisch, und die Feder kratzte übers Papier. Als ein Stempel gemacht ist, geht es einfacher, man muss den Stempel jetzt nur noch aufs Stempelkissen drücken und dem nächsten Flüchtling, Mann oder Frau, das fertige Visum in den Pass stempeln. Yukiko, die Frau des Konsuls, betrachtet die Gesichter auf den Fotografien, für jedes hat sie zwei, höchstens drei Sekunden, und keines wird sie je wiedersehen, aber es ist lang genug für die Blicke der Flüchtlinge, die sich ihrem Gedächtnis einprägen wie der Stempel dem Pass. Die Blicke von Estera, Jana, Rywka, Moshe, Chai, Feliks, Priwa, Hana spürt die zarte, zerbrechliche Yukiko am ganzen Körper. Yukiko sagt zu ihrem Mann, die Juden seien ihnen, den Japanern, näher als die Deutschen, er solle sich doch nur ihre dunklen Haare und ihre asiatisch schwarzen Augen ansehen. Die Frau von Konsul Sugihara hat Heimweh nach ihrem Land, und die Tatsache, dass diese Menschen ins Unbekannte fahren und nicht mehr in ihr Zuhause zurückkehren können, erscheint ihr als ein Unglück, das sie nicht überleben würde. Als die Frau des Konsuls ein kleines Mädchen war, erzählte die Großmutter ihr Märchen von den Dämonen, die runde blaue Augen hatten und Haare so weiß wie der Tod selbst, und sie kamen hinter den Bergen hervor. Heute noch ist es manchmal so, dass Yukiko bei der Unterhaltung mit einem Europäer dieses Entsetzen aus der Kindheit wieder einfällt, dann hat sie das Gefühl, durch die helle Pupille könnte man bis ins Innere des Kopfes sehen, wo ein Feuer brennt.
    Egal wie schnell der Konsul und Yukiko arbeiten, die Schlange vor der Botschaft wird nicht kürzer, Herr Sugihara schaut aus dem Fenster und wischt sich den Schweiß von der Stirn, während seine Frau ihm eine weitere Tasse grünen Tee einschenkt. Sie haben längst aufgehört, sich über die Vorschriften Gedanken zu machen, die die Zahl der auszugebenden Visa beschränken, und auch wenn sie ganze Tage mit ihrer Arbeit verbringen, gibt es doch immer noch mehr Leute, die ein Visum brauchen. In ihrer Erschöpfung sieht Yukiko einen Ozean von Menschen vor sich, die von allen Seiten in die Botschaft drängen, sie strecken die Hände aus, doch sie, Yukiko und ihr Mann, haben nicht genug von den lebensrettenden Zetteln, deshalb drücken sie die Stempel einfach auf die Körper der Menschen, sie stempeln Unterarme, Schultern, Wangen, Gesäßbacken.
    Herr und Frau Sugihara geben schon seit einem Monat Visa aus und haben den Überblick über die Zahl der ausgestellten Papiere verloren, vielleicht waren es sechs- vielleicht auch zehntausend, jedenfalls wird es immer klarer, dass der japanische Konsul bald aus Kowno abberufen wird, wo inzwischen die Russen einmarschiert sind. So kommt der September 1940, durchs geöffnete Fenster strömt der Herbstduft, die raunenden Stimmen der Menschen, die sich vor dem Gebäude drängen, sind wie die Stimmen der Geister vom Berg Osore, und Konsul Sugihara wird sie bis an sein Lebensende in seinem Kopf hören, ohne je zu wissen, wen er hat retten können und wer ins Verderben ging. Er lauscht und versucht zu verstehen, welches Flüstern in einer fremden Sprache glücklich ist und welches nicht, doch die Stimmen der Geister wogen heran und ziehen wieder davon wie Meereswellen.
    Selbst wenn Herr Sugihara auf dem Berg Osore, wo die itako , die blinden Schamaninnen, den Kontakt mit den Bewohnern der jenseitigen Welt herstellen, mit den Geistern sprechen wollte, wüsste er gar nicht, was für Einzelheiten er der itako nennen, welchen der sechs- oder zehntausend er rufen lassen sollte.
    Diejenigen, die rechtzeitig ein japanisches Transitvisum bekommen, werden vorgeben, dass sie in seltsame Länder fahren, wo ein aus seiner Heimat vertriebener Jude noch ohne Visum einreisen kann. Es gibt nicht viele solche Orte, und ihre Namen, wie Surinam und Curaçao, haben etwas Unwirkliches an sich. Über den japanischen Hafen Kobe, vielleicht auch über Yokohama, reisen Juden aus Krakau, Będzin, Radomsko, Piotrków und Izbica nach Surinam und Curaçao. Kobe, Surinam, Curaçao, sagen die Flüchtlinge vor sich hin, als hätten sie

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