Wolkengaenger
zurück auf den ihr zugeteilten Platz: den angebundenen Gehfrei.
Augenblicklich begann Mascha herzzerreißend zu weinen.
»Warum verschwenden Sie überhaupt Ihre Zeit mit ihr?«, fragte Nastja und tippte sich mit dem Finger zwei Mal an die Schläfe,
eine boshafte Geste, die wohl bedeuten sollte, dass Mascha schwachsinnig sei.
Wika erkannte, dass man ihr womöglich verbieten würde, Mascha wiederzusehen, und unternahm einen letzten Versuch, mit der
Betreuerin auf gutem Fuß zu stehen. »Ich kann Ihnen mit dem Mittagessen helfen, wenn Sie möchten«, bot sie an.
|29| »Nein. Ich komme allein zurecht. Zeit für Sie zu gehen. Und machen Sie sich nicht die Mühe, wiederzukommen.«
Wika gab Mascha einen Kuss auf die Stirn, nahm ihre Tasche, winkte Wanja kurz zu und war verschwunden. Und wieder einmal wurde
es still um Wanja.
Den ganzen Nachmittag lag Wanja wach in seinem Bett und dachte an Wika. Nastja hatte ihr gesagt, sie solle nicht wiederkommen.
Er würde sie nie wiedersehen. Der Verlust lastete schwer auf seiner Brust und ließ ihm kaum Luft zum Atmen. Er stellte sich
vor, wie er aus seinem Gitterbett sprang, nach drüben in den Tagesraum schritt, sich vor Nastja aufbaute und verkündete: »Zeit
für Sie zu gehen. Und machen Sie sich nicht die Mühe, wiederzukommen!« Dann würde Tante Walentina an Nastjas Tag kommen. Wie
herrlich wäre das!
Er zuckte zusammen, als Nastja kam und ihn aus seinem Bett nahm. Während sie ihn wickelte, hielt er die Augen geschlossen.
Als er wieder an seinem Tisch saß, starrte er sie jedes Mal hasserfüllt an, wenn sie ihm den Rücken zukehrte. Er war so wütend,
dass er, als die Tür aufging, gar nicht wie sonst reagierte und sich umdrehte, um zu sehen, wer hereinkam. Zu spät sah er
aus den Augenwinkeln jemanden in Jeans und Pullover an sich vorbeilaufen. Sein Herz machte einen Sprung, denn er dachte, es
müsse Wika sein. Doch als er sich umdrehte, musste er zu seiner Enttäuschung feststellen, dass dort zwar zwei Frauen ohne
Kittel standen, aber keine von beiden Wika war. Zwar hatte eine von ihnen lange Haare wie Wika, doch sie waren blond; die
andere sprach mit einer lustigen Stimme.
Sie waren zusammen mit einer Betreuerin hereingekommen, die Wanja zuvor erst zweimal in Gruppe 2 gesehen hatte, deren Namen
er aber trotzdem kannte: Schanna. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen, und er konnte spüren, dass sie die Besucher loswerden
wollte. Doch die Frau mit den kurzen Haaren stellte weiter Fragen. Schließlich bugsierte Schanna die beiden Frauen in Richtung
Tür, wobei sie ihnen erklärte, dass die Kinder gleich ihr Abendessen bekommen würden. Wanja |30| war überrascht, da das Abendessen immer erst nach Nastjas Nachmittagspause gebracht wurde, die sie noch gar nicht gehabt hatte.
Als sie die Tür erreicht hatten, ergriff Wanja die Gelegenheit beim Schopf.
»Bitte komm wieder«, sagte er zu der Frau mit den kurzen Haaren.
Zu seiner Freude drehte sich die Frau um und kam zu ihm. Sie gab ihm ein Auto und griff, auf seine Frage hin, ob sie auch
ein Auto für Andrej hätte, ein weiteres Mal in ihre Tasche und holte ein zweites hervor. Wanja hatte noch nie zuvor mit einem
Spielzeugauto gespielt, ebenso wenig Andrej. Beide ließen ihre Autos über die Tischplatte sausen und lächelten einander an.
Sie waren so darin vertieft, dass Wanja beinahe vergessen hätte, die Frau nach ihrem Namen zu fragen – sie sagte, sie heiße
Sarah – und ihr das Versprechen abzunehmen, wiederzukommen. Das würde sie, versicherte sie.
Kurz vor dem Abendessen nahm Nastja ihnen die Autos weg und legte sie auf ein hohes Regal. Als Wanja am nächsten Morgen aufwachte,
galt sein erster Gedanke seinem Auto. Er setzte sich auf, streckte eine Hand aus und stellte sich vor, sein Auto auf dem Geländer
des Gitterbetts hin- und hersausen zu lassen. Dann ließ er es eine große Kurve an der Wand entlang fahren.
»Nastja, kann ich jetzt mein Auto haben?«, fragte er, als sie in den Schlafraum kam.
»Auto? Welches Auto?«
Wanja wurde es unbehaglich zumute. Nervös griff er nach den Gitterstäben und zog sich hoch. »Du weißt doch, das Auto, das
Sarah mir geschenkt hat.«
»Sarah? Ich kenne keine Sarah.«
Wanja geriet in Panik. »Die mit der lustigen Stimme, die mir gestern das Auto geschenkt hat. Und Andrej hat sie auch eines
geschenkt.«
Nastja beugte sich über ein Gitterbett, um ein Kind herauszuheben. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Autos«,
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