Wolkengaenger
sagte sie ungerührt.
»Das musst du geträumt haben.«
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|31| 2.
EINE STIMME AUS DER STILLE
Oktober 1994 bis Juni 1995
Sarah lernte Wanja rein zufällig kennen. Genau genommen hätte sie ihn beinahe übersehen. Es geschah am Ende eines langen Tages
– ihr erster Besuch im Babyhaus 10, als sie vollkommen unvorbereitet in eine Welt eintauchte, die in der Zeit von Charles
Dickens stehengeblieben zu sein schien.
Wenn Sarah zehn Jahre später an den Herbst 1994 und ihre damalige Ankunft in Moskau zurückdenkt, erinnert sie sich, dass sie
keine bestimmte Vorstellung davon hatte, wie ihr Leben dort aussehen könnte: »Zusammen mit unseren beiden schulpflichtigen
Kindern war ich meinem Mann Alan, einem Zeitungskorrespondenten, nach Russland gefolgt, und fragte mich nun, womit ich die
vor mir liegenden vier Jahre verbringen sollte. Eines Tages ließ ich mich überreden, mit zum »Treffen der Neuankömmlinge«
zu gehen, das vom International Women’s Club organisiert wurde und den ausländischen Frauen als Vorwand diente, sich herauszuputzen
und Dunkin’ Donuts – ebenfalls frisch in Moskau eingetroffen – in der Residenz des amerikanischen Botschafters zu essen. Draußen
standen die russischen Frauen nach allem Möglichen Schlange. Drinnen hatten wir die Möglichkeit, uns für Ikonenmalerei, indische
Küche, Yoga, russische Literatur oder andere sinnvolle Aktivitäten anzumelden.
Zwischen all den in Gucci gehüllten Botschaftergattinen machte ich zufällig die Bekanntschaft einiger britischer Frauen, die
T-Shirts aus Kisten verkauften. Sie gehörten der Fürsorgegruppe des International Women’s Club an, die es sich zur Aufgabe
gemacht hatte, russischen Bürgern zu helfen, |32| deren Existenz infolge des Zusammenbruchs des Kommunismus zerstört worden war. Sie suchten verzweifelt nach Personen, die
gut Russisch sprechen und als Dolmetscher fungieren konnten, und ich wollte ihnen ihre Bitte nicht abschlagen. Ich ahnte nicht,
dass die Folgen dieser Begegnung den weiteren Verlauf meines Lebens derart bestimmen würden, dass ich am Ende der vierjährigen
Korrespondentenzeit meines Mannes noch nicht in der Lage sein würde, mit ihm weiterzuziehen.«
So kam es, dass Sarah an jenem wolkenverhangenen Dezembertag von Louisa, einer amerikanischen Freundin, in ihrer Wohnung abgeholt
wurde, um bei einem Besuch in einem Babyhaus zu dolmetschen. Moskau befand sich zu dieser Zeit in einem schlimmen Zustand.
Von den Veränderungen, die aus der Stadt Jahre später ein neonbeleuchtetes Boomtown machen würden, war noch nichts zu sehen,
und Schnee, unter dem die kaputten Gehwege und mit Schlaglöchern durchsiebten Straßen hätten versteckt werden können, war
auch noch keiner gefallen.
Im hinteren Teil von Louisas glänzend rotem Jeep Cherokee stapelten sich Kinderwintermäntel und -stiefel, Töpfchen sowie Packungen
mit Bunt- und Filzstiften – alles gekauft von Geldern, die die Fürsorgegruppe gesammelt hatte – sowie Dosen mit Keksen, die
Louisa selbst gebacken und glasiert hatte.
Während Louisa ihren Wagen den Moskauer Autobahnring entlangsteuerte und über vier Fahrstreifen nach rechts zog, um auf die
u-förmige Abbiegerspur zu gelangen, war sie sich bewusst, dass sie Befremden erregte: Sie war der einzige weibliche Fahrer
auf der Straße und vermutlich die einzige Frau in ganz Moskau am Steuer eines großen und teuren Geländewagens. Mit ihren langen
blonden Haaren fiel sie nur noch mehr auf. Sie fuhren gerade die Nowoslobodskaja Straße entlang, als ein zerbeulter Lada seine
ganze Kraft aufbot, um den Jeep zu überholen, und vier untersetzte Männer in Lederjacken Louisa böse Blicke zuwarfen, die
es wagte, der männlichen Vorherrschaft auf den Straßen die Stirn zu bieten.
Louisa kämpfte sich weiter durch den Verkehr und erklärte |33| währenddessen, dass das Babyhaus 10 zwar das am einfachsten zu erreichende Waisenhaus sei, aber auch das, zu dem man am schwersten
Zutritt erlangte. Grund dafür war Adela, die exzentrische Chefärztin, die Fremden gegenüber äußerst misstrauisch war. Sie
hielt alle ausländischen Frauen für Missionarinnen amerikanischer Sekten und war überzeugt, dass eine Dolmetscherin sie mit
dem bösen Blick geschlagen hatte. Seither hatte die Chefärztin alle Besuche der Fürsorgegruppe boykottiert, indem sie das
Babyhaus regelmäßig unter Quarantäne stellte, sobald man dort anrief, um einen Besuchstermin auszumachen.
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