Wolkengaenger
Vorschriften – drei Wochen Quarantäne. Dann wird er einer Gruppe zugeteilt.«
»Aber er hat gar nichts zum Spielen.«
»Spielzeug ist nicht erlaubt. Zu viele Keime«, sagte die Stellvertreterin.
Sarah wollte ihr weitere Fragen stellen, doch da sah sie Louisa auf sich zusteuern, die sehr besorgt aussah. »Hab ich dir
nicht gesagt, dass du keine unangenehmen Fragen stellen sollst?«, flüsterte sie Sarah zu. »Sie werden uns nie wieder hier
hereinlassen.«
In diesem Moment kam die Frau mit der großen Brille von draußen herein, gefolgt von einer alten Frau mit rußverschmierter
Stirn und einer grünen Haube auf dem Kopf, aus der graue Haarsträhnen herausschauten. Ihre Hände steckten in dicken, tiefschwarzen
Handschuhen, und in der Hand trug sie einen Kohleeimer.
Sarahs erster Gedanke war, dass diese drollige Frau eine Reinigungskraft sein musste. Erst als sie ihr vorgestellt wurde, |36| stellte sich heraus, dass Sarah hier niemand Geringeren vor sich hatte als Adela, die Chefärztin des Babyhauses, verantwortlich
für das Leben von zweiundsechzig Kinderseelen.
»Der Heizkessel muss repariert werden«, sagte Adela und zog ihre Arbeitshandschuhe aus. Unruhig blickte sie zwischen den Besuchern
und ihrer Stellvertreterin hin und her.
»Adela, wir haben die Mäntel und Stiefel mitgebracht, um die Sie gebeten haben«, sagte Sarah. »Sie sind im Auto. Wenn Sie
jemanden mit rausschicken, der uns das Tor öffnet, fahren wir den Wagen vors Haus.«
Trotz ihrer gehobenen Position ging Adela selbst mit nach draußen, entriegelte das Tor und zerrte es über den unebenen Boden.
Louisa fuhr den Wagen hinein und parkte vor dem Eingang neben dem alten Auto des Babyhauses, einem schmutzigweißen Wolga Kombi
mit einem roten Kreuz auf der Seite, der gegen die glänzend rote Karosserie des Cherokee geradezu armselig wirkte. Während
Adela die Spenden auslud und ins Haus trug, blieb das Personal, ein Häufchen Frauen in weißen Kitteln, zögerlich am Eingang
stehen.
Nachdem alle Artikel gezählt und von Adela quittiert worden waren, fragte Louisa, ob es noch mehr gäbe, was die Fürsorgegruppe
für das Babyhaus besorgen könnte. Adela blickte starr zu Boden und murmelte: »Wir haben alles, was wir brauchen.« Danach herrschte
betretenes Schweigen, woraufhin sich die Frau mit der großen Brille zu Wort meldete. »Adela Wladimirowna. Wie wäre es mit
einer Waschmaschine? Unsere ist seit Monaten kaputt.«
»Ja, genau. Das brauchen wir. Klären Sie das mit Louisa.«
Eine Tasche mit Spenden befand sich noch im Wagen. Sarah ergriff die Gelegenheit. »Hier sind noch Spielsachen. Können wir
sie den Kindern geben?«
Eine andere Frau im weißen Kittel trat einen Schritt vor. Sie stellte sich ihnen als Schanna, »Chef-Defektologin«, vor, und
verfügte zweifellos über eine gewisse Autorität. Sarah fragte sich, was ihr kryptischer Titel wohl zu bedeuten hatte.
Die Defektologin führte die Besucher den Flur entlang und |37| eine Steintreppe hinauf, deren kaltes, braun gestrichenes Geländer auf stählernen Pfosten auflag. Am oberen Ende der Treppe
gab es eine Sitzecke mit Teppich, roten Plastiksofas und einer verkümmerten Pflanze auf einem Blumenständer. Niemand saß hier,
und noch immer gab es keine Spur von einem Kind. Schließlich erreichten sie eine große Tür mit der Aufschrift GRUPPE 3. Drinnen
lief etwa ein Dutzend vierbis fünfjährige Jungen und Mädchen umher. Sie steckten in hellbraunen oder blassblauen Strumpfhosen,
darüber trugen sie Kleidungsstücke, die allesamt nicht zusammenpassten, was darauf schließen ließ, dass keiner von ihnen etwas
Eigenes besaß. Ein Mädchen stach aus der Gruppe heraus – offenbar war sie der Liebling der Betreuerin, denn sie hatte ein
gepunktetes Kleid an, eine große weiße Schleife im Haar und spazierte mit einer Puppe im Arm herum. Sarah entdeckte auf den
Gesichtern einiger Kinder einen Ausschlag; die Jungen hatten Blutergüsse und Schrammen.
Eine einzelne Betreuerin saß in einem weißen Kittel mit dem Rücken zu den Kindern an einem Schreibtisch und schrieb etwas
in ein Heft. Auf dem Boden stand ein Spielhaus, drum herum lagen ein paar kaputte Plastiktiere. Die hübscheren und interessanteren
Spielsachen lagen in einer Glasvitrine. Zum Spielen waren sie ganz klar nicht gedacht. Einer der Jungs schlug gerade mit einem
undefinierbaren Stück Plastik auf einen anderen ein. Die Betreuerin sah von dem Heft auf, warf einen Blick
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