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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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meine Angst vor der Zeit nach den Ferien etwas und machte mir auch Mut für das, was mich morgen erwartete. Was immer passieren würde, ich würde nicht allein sein, würde nicht ins Bodenlose fallen, sondern in ein Netz aus Liebe und Freundschaft sinken, das mich auffangen und abfedern würde, wie hart der Sturz auch sein mochte.

 
    II
    Am nächsten Tag gab es die Zeugnisse. Für die einen war es ein böses Erwachen, für die anderen die Bestätigung ihrer Hoffnungen oder Befürchtungen, für mich allerdings der ersehnte Preis meiner Mühen. Verglichen mit dem Vorjahreszeugnis war es eine Einhundertachtzig-Grad-Wendung. Ich war mehr als zufrieden mit mir, und auch Felix schien die Wirrungen des ersten Halbjahres gut verkraftet zu haben und hatte seine Leistungen wieder stabilisiert. In diesem Jahr trennten wir uns in gutem Einvernehmen, herzlich und voller Optimismus für die vor uns liegende Ferienzeit. Christoph erwartete mich schon vor der Schule, und als ich in seinen Wagen stieg, wusste ich genau, wie viele Augenpaare mich neidisch, amüsiert oder wehmütig beobachteten. Ich küsste ihn hinter den abgedunkelten Scheiben, innig und leidenschaftlich, direkt vor den Augen meiner Klassenlehrerin, die jedoch nicht zu uns hereinsehen konnte. Bevor wir vom Schulhof fuhren, nahm ich mit einem halben Auge noch wahr, wie Felix ebenfalls in einen Wagen einstieg. Aber das war nicht der seiner Eltern! Ich runzelte erstaunt die Stirn, aber dann verlor ich ihn aus den Augen. Vielleicht hatte ich mich ja auch geirrt. Ich genoss die Fahrt durch den Sommertag, mit heruntergelassenen Scheiben, dem Wind im Nacken, guter Musik im Ohr und meinem Lover neben mir. So war die Welt in Ordnung!
     
    Am Nachmittag tagte der Familienrat. Meine Mutter teilte meine Begeisterung über meinen Jahresabschluss ohne Vorbehalte. Im Gegensatz zu meinem Vater wusste sie ja auch genau, was ich nebenher noch alles durchgemacht hatte. Vater war heute extra früher nach Hause gekommen, was mich etwas irritiert hatte. Aber umso besser, wenigstens würde damit die Konfrontation nicht mehr so weit hinausgeschoben werden. Er betrachtete das Zeugnis sehr  lange, blätterte zum Halb- und Vorjahreszeugnis, als suche oder vergliche er etwas. Nach einer halben Ewigkeit ließ er das Heft sinken und sah mich an. Seine Augen, blau wie Stahl, bohrten sich in meine, und im Gegensatz zu Christophs Diamantblick tat das jetzt weh.
    „Die Noten sehen ganz gut aus. Aber du hast andere Kurse belegt als im letzten Jahr. Mathe und Chemie Grundkurs. Mit einer Zwei als Note ganz gut, aber warum nur Grundkurs?“
    Ich spürte Christophs Augen auf mir ruhen. Er saß hinter mir auf der Couch, stärkte mir quasi den Rücken. Seine Stimme wehte in meinem Kopf: ‚Jetzt, Jann, komm, sag es. Ich bin hier, ich fang dich auf!’
    Ich schluckte hart und holte tief Luft: „Na ja, ich habe mir halt so meine Gedanken über mein Studium gemacht und ...“
    Vater unterbrach mich: „Das ist ja schön, dass du dich endlich einmal mit deiner Zukunft auseinandersetzt.“ Er lächelte dabei, aber es wirkte irgendwie nicht echt, eher aufgesetzt, vorsichtig, lauernd. Er sprach weiter: „Ich habe gehört, dass die Technische Universität in Braunschweig für Pharmazie ganz gut sein soll. Oder die Universität Hamburg. Bei beiden könntest Du auch Informatik belegen und ...“
    Einem plötzlichen Impuls folgend fiel ich ihm ins Wort: „Ich möchte aber nicht Pharmazie studieren, und Informatik schon gar nicht!“ Ich spie den Satz aus wie ein Stück trockenes Brot, das mir seit langem im Hals gesteckt, mich gequält und mir die Luft abgeschnürt hatte. Jetzt war ich es endlich los! Ich erschrak selbst über meine Kühnheit. Aber ich fühlte mich plötzlich auch erleichtert. Der Kampf war eröffnet, zum ersten Mal hatte ich meinem Vater den Degen entgegengestreckt und gerufen: En garde! Meine Stimme hatte ein bisschen gezittert wie der imaginäre Degen, aber ich hielt an meinen Worten fest wie an dessen Griff. Jetzt nicht nachgeben!
    Doch das war leichter gesagt als getan. Ich beobachtete Vaters Gesichtszüge, in denen die eben noch feurige Begeisterung langsam erstarb: zuerst mischten sich Überraschung und Erstaunen in seinen Blick, und schließlich keimten Misstrauen und Zweifel darin auf. Und irgendwie war da auch eine Art ahnende Erkenntnis, als würde er jetzt die Bestätigung haben für etwas, das er bereits vermutet hatte. Trotzdem bohrte er vorsichtshalber nach: „Was meinst du

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