Wolkengaukler
Ich deutete auffordernd auf das Zeugnisheft.
Er sah mit verkniffenem Gesicht auf das Heft herab und brummte: „Im Leben geht es nicht immer nur um Spaß!“
„Worum denn dann? Um Geld? Prestige? Glanz und Gloria? Das brauche ich nicht! Du lebst, um zu arbeiten. Bitte, wenn du damit glücklich bist, dann sei es dir gegönnt. Aber ich stelle mir andere Dinge vor.“
Plötzlich wieder dieses stählerne Blitzen in seinen Augen, und dann sprang das Raubtier daraus hervor und mir direkt ins Gesicht: „Was denn zum Beispiel? Etwa mit deinem Cousin ins Bett zu gehen?“ – ...
Das saß! Für einen Moment war ich völlig sprachlos. Dass er mir so unter die Gürtellinie gehen würde, hatte ich nicht erwartet. Für einen schier unendlich langen Augenblick herrschte absolute Stille im Raum. Christoph hinter mir schien wie erstarrt, ich hörte nicht einmal seinen Atem. Auch ich fühlte mich wie gelähmt, unfähig, auf diesen Angriff reagieren zu können.
Doch nach dem ersten Schmerz durchdrang mich eine ungeahnte, eiskalte Wut. Oh nein! An Christoph sollte er nicht herankommen! Ich richtete mich auf, nahm die Schultern zurück, hielt meinen imaginären Degen schützend vor meinen Lover. Meine Stimme klang dumpf wie ein Trommelwirbel:
„Worin liegt eigentlich genau dein Problem, Vater? Dass ich schwul bin?“
Dieses Wort, das jeder von uns bisher so penibel vermieden hatte, schleuderte ich ihm jetzt rücksichtslos ins Gesicht. Was er konnte, konnte ich auch. Seine Augenlider zuckten kurz. Ha! Ich bohrte weiter: „Weil ich damit nicht mehr in dein Bild von einer perfekten Familie passe? Weil es ausgerechnet Christoph ist, den du nicht einschätzen oder beeinflussen kannst, der schon zu selbstständig ist, als dass du ihn noch dirigieren könntest, wie es dir in den Kram passt? Oder weil ich plötzlich eigene Vorstellungen habe, eigene Ideen entwickle, mich deinem Einfluss entziehe, ohne dich vorher zu fragen?“ Kampfeslustig funkelte ich ihn an. In meiner Rage bemerkte ich nicht, dass wir uns beide auf einen Abgrund zu bewegten, in den einer von uns unweigerlich stürzen würde.
Vater war ebenfalls aufgebracht: „Du hast kein Recht, so mit mir zu reden. Ich bin immer noch dein Vater!“ Aha, jetzt kam die Autoritätsschiene. Die hatte bei mir bisher immer gezogen – aber heute nicht!
„Und ich bin dein Sohn! Sieh mich endlich als das, was ich bin! Ich bin nicht deine Marionette oder deine Lebens-versicherung. Du kannst mich nicht dirigieren oder einfach einlösen! Du hast zwar die Patentrechte an mir, aber auch das beste Patent ist wertlos, wenn es schlecht vermarktet wird! Das müsstest du als Geschäftsmann eigentlich wissen!“
In seinen Augen leuchtete kurz Bewunderung auf. Für meinen Vergleich? Aber was verstand er schon von literarischen Stilmitteln! Was verstand er schon von dem, was mir wichtig war?! Im nächsten Moment war das Leuchten auch schon wieder erloschen. Seine Augen blickten kalt und irgendwie auch resigniert. Langsam drehte er sich um, wandte mir den Rücken zu und sah aus dem Fenster, das Jackett zurückgeschoben, die Hände in die Hüften gestemmt – genau wie vor einem Jahr. War das seine Art, seinem Sohn Autorität und Respekt einzuflößen? Indem er ihm den Rücken zukehrte wie eine Mauer, den Blick verbarg und damit jede weitere Kontaktaufnahme verhinderte? Oder wollte er damit sich selbst schützen? Vor wem? Vor mir? Vor Christoph? Vor dem, was sich hier anbahnte und das er nicht mehr unter Kontrolle hatte?
Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Christoph saß auf der äußersten Kante der Couch, total angespannt, wie bereit zum Sprung. Auf seiner Stirn glänzten kleine Schweißperlen, seine sonst so weichen Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst und hart wie noch nie. Sein Blick flog zu mir – seine Diamantaugen funkelten fast weiß und kalt wie Schnee.
Ich drehte mich wieder um; mein Vater begann, leise zu sprechen, fast wie zu sich selbst: „Ich hatte so große Hoffnungen in dich gesetzt.
Ich wollte dich als Juniorpartner in meine Firma aufnehmen, du solltest einmal mein Unternehmen weiterführen. Das scheint sich ja nun erledigt zu haben. Wofür, Jann? Für irgendwelche Flausen in deinem Kopf? Und das alles heimlich, ohne es mit mir abzusprechen?! Ist dir nicht klar, was du damit anrichtest? Du hast mich enttäuscht, Jann, mich und Mama!“
Was redete er da eigentlich? Wieso enttäuscht? Hatte ich nicht ...? War mein Zeugnis nicht ...? Und wie
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