Wolkengaukler
Mittwoch, aber selbst über das Wochenende schien er keine Zeit gefunden zu haben, mir zu antworten. Was war da nur los? Ich zogmein Handy aus der Tasche und wählte Tante Melanies Nummer.
„Kirchner?“
„Hallo, Tante Melanie, hier ist Jann!“ Auf ihre nächsten Worte und vor allem den panischen Schrecken in ihrer Stimme war ich nicht im Geringsten gefasst: „Jann, oh Gott, warum rufst du hier an? Weißt du etwas von Christoph?“ Meine Nervosität schlug ebenfalls in Panik um. Entschlossen schluckte ich sie runter. Ganz ruhig jetzt!
„Nein, nichts Neues. Er hat sich seit letztem Mittwoch nicht mehr bei mir gemeldet. Ich wollte dich eigentlich gerade fragen, ob du weißt, wann er zurückkommt?“ Ob er kommen wollte, das wollte ich nicht fragen.
Sie schien erst einmal tief durchzuatmen und um Fassung zu ringen, dann antwortete sie: „Ich weiß nichts. Ich habe seit letzter Woche auch nichts mehr von ihm gehört. Kein Anruf, keine Mail, das Handy ist immer ausgeschaltet! Ich erreiche ihn nicht mehr! – Ist zwischen euch beiden etwas passiert?“
Ich hörte die Angst und einen leisen Hauch von Vorwurf in ihrer Stimme. Aber ich war mir keiner Schuld bewusst! Jedenfalls nicht direkt! Okay, meine Mails waren in letzter Zeit etwas mager ausgefallen – sehr mager, um genau zu sein. Aber ich hatte ihm geschrieben, dass ich vor den Ferien noch einmal eine Menge für die Schule würde tun müssen, und er hatte Verständnis dafür gezeigt, dass ich nicht gleich sofort auf jede Mail ausführlich antworten konnte. Einmal hatte ich gar nicht geantwortet ....
„Nein, nichts“, antwortete ich, „Ich weiß nur, dass er in den letzten Wochen für die Uni noch eine Menge zu tun hätte und ...“
Tante Melanie fiel mir ins Wort: „ Aber er ist doch gar nicht mehr an der Uni! Nicht einmal mehr in Montreal! Er hat seine Pläne kurzfristig geändert. Letzten Mittwoch am Telefon sagte er mir, wenn er schon mal da drüben sei, wollte er die letzten paar Tage nach New York! Nach New York!! Jann, das Tor zur Welt! Hat er dir das nicht geschrieben?“ Hatte er nicht, und ich spürte die Wut darüber in mir hochsteigen wie glühende Lava. Was fiel Christoph eigentlich ein, uns beide hier so im Dunkeln tappen zu lassen?! Von wegen klare Ansagen für jeden von uns! Im nächsten Moment fühlte ich Celines Hand auf meiner Schulter ruhen, und die gemeinsame Sorge um den Freund, den Bruder und den Sohn gewann wieder die Oberhand.
„Hör zu, Tante Melanie, ich schreibe ihm jetzt sofort eine dringende Mail, spreche auf seine Mailbox und schicke ihm eine SMS. Wenn er wieder den Kontakt sucht, wird er mindestens eine Nachricht davon empfangen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.“
„Ist gut, Junge, tu das. Und ruf mich sofort an, sobald du etwas Neues weißt, ja?“
„Natürlich. Mach’ dir keine Sorgen, Tante, ich gehe davon aus, dass nichts passiert ist.“
„Aber wer weiß, was passieren wird ?“ Ihre Stimme zitterte vor Angst, und es tat mir unendlich leid, sie damit jetzt allein lassen zu müssen. Ich legte auf.
Celine schaute mich fragend an, und ich setzte sie rasch ins Bild. Sie lächelte wissend: „Er sucht die Freiheit. Aber er kann sich nicht entscheiden.“ Jetzt war ich erstaunt. Woher wusste sie von Christophs innerem Zwiespalt? Aber sie zuckte nur die Schultern und fügte hinzu: „Ich kenne das Gefühl auch.“ Das Erbe des Vaters!
Ich setzte mich wieder an den PC und schrieb:
„Christoph, bitte komm zu mir zurück. Melde dich zumindest. Ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen. Das geht nicht über Mail. Bitte, es ist sehr dringend! Ich brauche dich hier! Dein Jann.“
Einer Eingebung folgend, fügte ich noch einen Anhang an die Mail. Denselben Text schrieb ich als SMS und sprach ihn auf die Mailbox seines Handys auf. Dann konnten wir nur noch warten.
Eine Weile wussten wir beide nicht so richtig, was wir mit uns anfangen sollten. Ich fand es seltsam, hier so dicht neben der Schwester meines Lovers zu sitzen, die mir bis vor wenigen Wochen noch beinahe eine Fremde war, und darauf zu warten, dass der, den ich liebte und der wie ein Teil von mir war, endlich wieder zu mir fand. Celine schien meine Ratlosigkeit zu spüren. Auch sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das andere Ende des Bandes, das noch irgendwo drüben auf der anderen Seite des Weltmeeres haltlos im Wind flatterte, ergreifen und festhalten zu können.
Schließlich begannen wir, über Christoph zu reden, um ihn so wenigstens
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