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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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imaginär hier bei uns in meinem Zimmer zu haben. Ich erzählte Celine, was ich über ihn wusste, über seine Kindheit, seinen Vater, und über uns, unseren gemeinsamen Sommer in München, den ich jetzt mit ihr ein zweites Mal durchlebte. Es erstaunte mich, wie stark die Erinnerungen noch immer waren, und dass ich keine Skrupel hatte, ihr gegenüber Details anzusprechen, die ich nicht einmal Felix anvertraut hatte. Sie berichtete mir ebenfalls von ihrer Kindheit und tauschte mit mir ihre Erlebnisse mit ihrem Vater aus. Es war spannend, demselben Mann in zwei verschiedenen Geschichten zu begegnen, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch unverwechselbare Ähnlichkeiten aufwiesen.
    Irgendwann im Laufe des Abends schrak ich auf. Hatte da nicht eben die Haustür geklappt? Ich legte den Finger auf die Lippen und horchte nach unten.
    „Jann ...!?“ Tatsächlich! Meine Mutter! Mein Blick flog zur Uhr: Zehn Uhr! Schon? Erst? Sie kam früher als erwartet! Himmel, was jetzt? Wie gehetzt blickte ich von der Uhr zur Tür, dann zu Celine und wieder zurück. Derweilen kam meine Mutter die Treppe herauf. Zunächst war ich wie versteinert, aber schließlich wollte ich aufspringen und – ja, was nur? Plötzlich spürte ich Celines Hand auf meinem Oberschenkel: „Bleib hier, Jann, ganz ruhig. Es ist nichts passiert!“ Ich sah in ihre Augen, die mich sofort zu besänftigen schienen. Hatte Christoph das nicht auch einmal gesagt, abends auf einem Bett, im Schein einer Nachttischlampe?! Verdammt, Christoph, wo bist du nur?
    Die Tür ging langsam auf. „Jann? Schläfst du schon? Ich bin wieder .... Oh!“ Meine Mutter stand in der Tür, den Mantel noch über dem Arm, die Tasche über der Schulter, einen Ausdruck freudigen Erstaunens im Gesicht. „Hallo?! Ich hoffe, ich störe nicht?“
    Doch, Mama, aber nicht bei dem, was du jetzt denkst!
    „Nein, ist schon gut, ehm ... komm doch rein, ich ...“ Verdammt, wieso kam ich mir plötzlich wie ertappt vor, war so hilflos und verlegen? Es war doch nichts passiert! Aber genau das war das Problem: es passierte nichts! Tante Melanie rief nicht an, Christoph antwortete nicht, und es war schon viertel nach zehn. In Montreal war es jetzt etwa viertel nach vier. Zeit für Christoph, nach den Vorlesungen seinen PC anzuschalten und zu arbeiten, an Vorträgen, Entwürfen, Zeichnungen, was auch immer – und endlich meine Mail zu empfangen! Aber er war ja nicht mehr in Montreal! Nichts war mehr so, wie ich es im Kopf hatte, und in meinem Herzen sah es genauso chaotisch aus!
    Plötzlich wieder die Stimme meiner Mutter: „Möchtest du mich der jungen Dame nicht vorstellen?“
    „Oh, ehm ...,“ ich zeigte umständlich von einer Frau zur anderen: „ja also: Mama, das ist Celine Dubêre, unsere Austauschschülerin. Celine, meine Mutter!“ Okay, das hatte sie ja nun schon mitbekommen. Erschreckenderweise schien meine Mutter plötzlich eine Szene aus einem dieser alten amerikanischen Schinken nachzuspielen, die sie immer so gerne sah: „Ah, Celine, es freut mich, dich mal kennen zu lernen! Jann hat mir schon viel von dir erzählt!“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. Nein, Mama, du springst gerade auf den falschen Zug auf!
    Celine reichte ihr höflich die Hand, sprach aber in ihrer Aufregung Französisch: „Bon soir, Madame!“ Ich grinste innerlich: so cool, wie sie tat, war sie ja doch nicht!
    Meine Mutter wandte sich wieder zur Tür, mit einem seltsam entrückten Lächeln im Gesicht und trotz des schweren Tages, den sie ganz gewiss hinter sich hatte, mit einem seltsam federnden Schritt. „Na gut, Kinder, dann lasse ich euch jetzt mal allein. Aber macht nicht mehr so lange, ja? Morgen ist noch mal ...“
    „Warte mal, Mama!“ Ich musste diese Szene jetzt sofort klären, bevor in ihr eine Lawine ins Rollen geriet, die ich dann vielleicht nicht mehr würde aufhalten können. Sie drehte sich erstaunt um: „Aber ihr habt Euch doch bestimmt noch eine Menge zu erzählen, oder?“ Verdammt, sie kam aus ihrer Filmrolle nicht heraus! Oder wollte sie das nicht? Wollte sie sich selbst so lange wie möglich eine heile Welt vormachen, in der alles ganz normal zuging – Junge und Mädchen, der uralte Zauber – in der sie das System verstand und sich sicher fühlte? Ich hatte keine Ahnung, was gerade in meiner Mutter vorging, aber was gleich in ihr vorgehen würde, das konnte ich mir ungefähr vorstellen. Ich atmete tief durch:
    „Nein, Mama, ich habe dir eine Menge zu erzählen. Komm her,

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