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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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zu spät sein. Was konnte denn jetzt noch passieren? Ich schloss langsam die Augen, während ich schon ihren Atem auf meinen Lippen spürte. –
    Und dann sah ich es!
    Ein Blitzen an ihrem Hals. Metallisch, silbern, fein und unscheinbar, aber in diesem Moment, da ich ihr so nahe war, sehr deutlich.
    In letzter Sekunde wich ich ihren Lippen aus. Sie stockte. Dann zog sie sich langsam zurück, sah mich erstaunt, aber auch ein bisschen enttäuscht an und fragte leise: „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Oh Gott, hoffentlich wurde sie jetzt nicht hysterisch!
    „Nein, ... nein, wirklich nicht! Es .... es tut mir leid. Du hättest mich fast so weit gehabt, Celine, und es ist auch nicht deine Schuld, aber .... Es geht nicht, es ist nicht richtig.“
    Ihr Erstaunen wurde größer, verscheuchte das Misstrauen; stattdessen gesellte sich Neugier dazu – zumindest aber erst einmal kein Ärger.
    Ich deutete auf ihren Hals: „Was hast du da, ich meine, was trägst du da um den Hals? Kann ich das mal sehen?“
    Sie schaute an sich herunter: „Eine silberne Kette, warum fragst du?“ Sie griff sich in den Nacken und löste den Verschluss. Ganz vorsichtig zog sie die Kette unter dem Pullover hervor.
    Mir stockte der Atem. Tatsächlich! Eine silberne Kette mit einem kleinen Anhänger – einem C. Genauso gearbeitet wie die, die ich selbst um den Hals trug, nur etwas kürzer und feiner – quasi die Damenausgabe.
    Sie hielt mir die Kette vor die Augen, und ich nahm sie behutsam in meine Hand. Sie war noch warm von ihrem Dekolleté, doch das nahm ich nur am Rande wahr.
    „Woher hast du sie?“, fragte ich leise.
    „Von meinem Vater“, antwortete sie. „Warum bist du plötzlich so seltsam?“
    „Kennst du deinen Vater?“
    „Oui, bien sûr.“ Sie wurde jetzt selbst unsicher und verfiel unweigerlich in ihre Muttersprache.
    „Du sagtest, er wäre Musiker?“ Ich tastete mich langsam voran.
    „Oui, aber nicht nur. Er ist auch ... hmm, ich weiß nicht, wie man es nennt in Deutsch... so ein Artist, aber nicht bei einem Zirkus. Besser ein Spielmann, mit einer Gruppe, zu Dorffesten, jedes Jahr im August.“
    „So eine Art Gaukler?“
    „Oui, exactement!“ Sie strahlte, glücklich darüber, mir etwas gut beschrieben zu haben.
    Ich war viel zu angespannt, um jetzt lächeln zu können: „Celine, das ist jetzt wichtig, auch wenn es dir seltsam vorkommen mag: wie heißt dein Vater?“
    Sie runzelte die Stirn. „Ich verstehe zwar nicht, warum du das wissen musst, aber es ist kein Geheimnis: Er heißt Christian Santier.“
    Mit einem Stoß ließ ich die Luft entweichen, die ich instinktiv angehalten hatte, und lehnte mich zurück. Also doch!
    Sie hatte den Namen mit französischem Akzent ausgesprochen, aber für mich gab es keinen Zweifel. Entschlossen griff ich an meinen Hals und holte Christophs Kette hervor.
    Zuerst misstrauisch, aber dann voll ungläubigem Erstaunen betrachtete sie das silberne Ding. „Elles sont identiques! C’est impossible !“ Sie sah mich bestürzt an. Im Gegensatz zu ihr hatte ich mich schon wieder gefasst und begann zu erklären:
    „Die gehört meinem Cousin Christoph. Er wohnt mit seiner Mutter, der Schwester meiner Mutter, in München. Sein Vater ist so eine Art Spielmann, ein Gaukler, der mit seiner Schaustellertruppe einmal im Jahr in Christophs Geburtsort vorbeigezogen kam, allerdings im Juni. Der Name des Vaters ist“ – hier verengten sich ihre bisher kugelrunden Augen zu zwei schmalen Schlitzen – „Christian Santer. Du kennst ihn als Christian Santier.“ Ich sprach den Namen deutsch und französisch aus, um ihr die Ähnlichkeit zu verdeutlichen.
    Sie starrte auf die beiden Kettchen. Ich hätte einiges darum gegeben, jetzt hinter ihre Stirn blicken zu können; stattdessen beobachtete ich sehr genau ihr Mienenspiel, in dem sich die verschiedensten Emotionen wie in einem Stummfilm abspielten: von Misstrauen über Fassungs- und Ratlosigkeit bis hin zu vorsichtiger Freude.  Schließlich murmelte sie: „J’ai un frêre ....“
    „Einen Halbbruder, um genau zu sein. Es tut mir leid, wenn ich so indiskret in deine Familienangelegenheiten hereingeplatzt bin, aber ich wollte dir erklären, warum ... das mit uns nicht geht.“ Dass das noch nicht die ganze Wahrheit war, schien sie sofort zu spüren; und nach einer Weile hatte sie das fehlende Puzzleteil auch entdeckt: „Warum hast du die Kette? Warum trägt er sie nicht selbst?“
    Ich schloss für einen Moment die Augen, um mich zu sammeln.

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