Wolkentaenzerin
überregionale Zeitung mehr gelesen, und obwohl sie das auf der Insel nicht vermisst hatte, vertiefte sie sich nun in die Artikel wie in Briefe in der Ferne lebender Freunde. Selbst die Schlagzeilen – so erschreckend sie auch waren – kamen ihr seltsam beruhigend vor. Eine Terrorzelle in Detroit war zerschlagen worden. Man stand kurz davor, die Quelle der Anthraxbriefe aufzudecken. Der erste BSE -Todesfall in Kanada war nach Großbritannien zurückverfolgt worden, was bedeutete, dass nicht das Vieh in Nordamerika die Ansteckung verursachte, noch nicht. Lösungen waren in Reichweite, man konnte Vorkehrungen treffen. Viele Katastrophen waren vermeidbar, und falls nicht, arbeitete jemand daran, einen Weg dafür zu finden.
Kate blätterte auf die nächste Seite des Inlandsteils und hielt bei einem Artikel über Zufälle inne – es ging unter anderem um die Wahrscheinlichkeit, dass elf der global führenden Experten im Gebiet des Bioterrorismus vor kurzem verstorben waren, einer nach dem anderen, einfach durch Zufall. Verschwörungstheoretiker lagen falsch, behauptete der Artikel. Statistisch gesehen läge das verdächtig wirkende zeitliche Zusammentreffen ihrer Tode im Rahmen bloßen Zufalls.
Bloßer Zufall . Kate war dieser Ausdruck mittlerweile verhasst. Sie ließ die Zeitung sinken und sah den Gang hinunter zu dem Pärchen, dessen Auseinandersetzung heftiger wurde. Die junge Frau wollte nicht mit ihm gehen, sagte sie, sie hasse ihn, wenn er so sei, lass los . Seine Arme um ihren Körper sahen mehr nach einer Wrestlingpose als nach einer Umarmung aus. Ängstlich sah Kate sich nach dem Sicherheitsdienst um.
Keinen Zufall konnte man einfach so abtun. Jeden Tag kamen Millionen von Menschen durch willkürliche Geschehnisse, wahllose Ereignisse und außergewöhnliche Vorkommnisse der Natur ohne eigenes Verschulden um. Verschulden war besser: Fahrradunfall ohne Helm, Lungenkrebs bei einem Raucher, irgendein Ursache-und-Wirkungs-Schema, das das Chaos in Schach hielt. Es gab auch das offensive Risiko, wenn sie zum Beispiel durch die Halle ging, um sich in die Auseinandersetzung des Pärchens einzumischen, und kalkuliertes Risiko, wenn man ein Ferienhaus mitten in einem Tularämie-Gebiet mietete. Vielleicht fiel darunter sogar ihre Entscheidung, diesen Zug zu nehmen, der sie erst nach zwei Uhr morgens nach Hause bringen würde. Und dann gab es das, was man bloßen Zufall nannte. Elizabeth, die kaum reiste, dann aber in dem Flieger saß – mit ungünstigem Wind, einem defekten Steuer und einem unerfahrenen Piloten. Ein kleines Mädchen, das seiner großen Schwester auf dem Fahrrad hinterherstrampelte, dessen Neckerei gerade mit dem Vorbeifahren eines rücksichtslosen Autofahrers zusammenfiel.
Die Monate nach Elizabeths Tod waren ein Schock für Kate gewesen, die Erkenntnis, dass die Welt ein wahrhaft unvorhersehbarer Ort war und dass das Leben nicht einer wohlwollenden Spur folgte, nur weil man Bioobst und -gemüse aß und täglich Zahnseide benutzte. Sie wusste, dass ihr Verhalten naiv war, doch es verängstigte und betäubte sie, und so behielt sie es für sich. Auf Elizabeths Beerdigung war sie in düsterer Stimmung gewesen wie alle anderen, und wenn sie in den Monaten danach stiller geworden war – nun ja, zu dem Zeitpunkt befand sich das ganze Land im Schockzustand. Niemand bemerkte, dass sie mehr Zeit allein verbrachte und sich mit wachsender Fixierung fragte, zu welcher Schule ihrer Kinder sie zuerst eilen würde, wenn man Washington angriff.
Doch hatte Kate keinen Zugriff mehr auf den Schock, und er selbst schien mittlerweile anmaßend. Man konnte gelähmt werden vor Sorge um seine Familie, oder man konnte sich gegen Kinder entscheiden, wenn man noch keine hatte, als eine Art proaktiver Schadensbegrenzung. So oder so würde man sein Leben jedoch freiwillig entgleisen lassen vor lauter Angst, dass es zufällig zerstört werden könnte. Oder aber man konnte sich aufraffen und weitermachen. Das waren die einzigen Möglichkeiten.
Als sie noch ihre Fernsehsendung machte, hatte sie daran geglaubt, dass das meiste nur von reiner Willenskraft abhing. Jetzt aber verstand sie, dass es Eitelkeit war. Vieles im Leben war gar nicht kontrollierbar. Die, die das verstanden, gingen weiter; sie verfügten über die Denkweise eines Kämpfers. Die Ironie daran, dass sie das nun von jemandem lernen sollte, der das nicht geschafft hatte, bemerkte sie sehr wohl.
Das streitende Paar sprach mit gedämpften Stimmen; die
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