Wolkentaenzerin
ihrer Schulter. Es war nicht wirklich eine Berührung, wahrscheinlich eher das Zucken ermüdeter Muskeln, aber es fühlte sich wie eine Berührung an, so wie die Hand einer Großmutter, die sich sanft erinnernd auf die Schulter eines Kindes legt. Um die feinen Härchen auf Kates Arm zog sich die Haut zusammen. Jedes einzelne helle Haar auf ihrer gebräunten Haut richtete sich auf. Sie sah sich vorsichtig um, auch wenn sie wusste, dass sie nichts sehen würde, dort war niemand. Dann legte sie das Buch langsam zurück in die Truhe.
Sie setzte sich mit dem Tagebuch aus Elizabeths Collegejahren, das sie gerade las, auf die Chaiselongue.
5. Oktober 1981, New York University
Ich war umsichtig, ich war vorsichtig, aber nicht den Umständen entsprechend (furchtbare Wortwahl) um- oder vorsichtig genug. Es ist unfassbar. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.
Das stimmt nicht. Ich weiß es.
Dummes, dummes Mädchen. Und ich muss mich auch alleine darum kümmern. Michael anzurufen kommt nicht in Frage, so wie er sich am Ende der Ferien verhalten hat. Ich habe ihm von Anna und dem Unfall erzählt, und als ich fertig war, habe ich wie ein Kleinkind geheult, und er hat reagiert, als hätte ich ihn gerade zur Paartherapie angemeldet. Als ich dann abgereist bin, habe ich ihm meine neue Nummer im Wohnheim gegeben, und er hat ausgesehen, als ob er es nicht abwarten könnte, sie wegzuschmeißen.
Gestern Abend konnte ich niemanden um mich ertragen und bin spazieren gegangen. Washington Square bis Union Square, die Park Avenue hoch bis zur Grand Central Station, weiter zum Central Park, am Plaza vorbei, wo gerade eine Braut wie im Märchen ganz dämlich die Stufen herunterstolzierte, dann wieder runter bis zum Gramercy Park und auf die Zwanzigste, und da habe ich mich an den Zaun gegenüber vom National Arts Club gesetzt. Gerade letzte Woche habe ich mir geschworen, eines Tages dort eine Ausstellung zu haben.
Ich habe lange nur dagesessen. Es ist so ein beeindruckendes kleines Gebäude, in das so brillante Leute hineingehen und dann ein paar Minuten später mit einem Glas Wein in der Hand oben hinter dem großen Erkerfenster auftauchen, und sogar wie diese Leute sich an der Nase kratzen, sieht künstlerisch und kultiviert aus. Sie scheinen immun gegen alles, als würde ihnen nie etwas Schlimmes zustoßen, das sie von ihren Plänen abbringen könnte. Könnte ich das College aufgeben und arbeiten gehen, um alleine ein Kind großzuziehen, und dann doch irgendwann dort im Salon stehen und Komplimente zur gelungenen Ausstellung entgegennehmen? Scheint mir nicht so. Ich kann mir kein einziges Alleinerziehenden-Szenario vorstellen, das auch nur annähernd Sinn ergibt. Ich kann doch keine Mutter sein. Ich übernehme ja kaum Verantwortung für mich selbst.
Mein Arzttermin ist nächste Woche. Es ist nur ein winziges Knäuel von Zellen, wie eine Joghurtkultur oder so. Das rede ich mir zumindest ein.
Kate musste den Eintrag und die darauffolgenden Seiten mehrere Male durchlesen. Nicht wegen ihrer Fassungslosigkeit darüber, dass Elizabeth eine Abtreibung hinter sich hatte oder dass sie Kate nie davon erzählt hatte. Sondern weil Elizabeth so wenig darüber nachgedacht zu haben schien oder zumindest nicht darüber geschrieben hatte. Nach der nächsten Seite wurde es nie wieder erwähnt.
Die Einträge aus Elizabeths Zeit am College lasen sich wie ein Roman, so wenig Ähnlichkeit hatten sie mit der Frau, die Kate gekannt hatte. Elizabeth hatte sich in die New Yorker Kunstszene gestürzt. Sie trat einem studentischen Künstlerkollektiv bei und arbeitete bei Mixed-Media-Ausstellungen mit. Zwischen den Seiten steckende Fotos zeigten ungewöhnliche Leinwandformate mit gewagten Mustern, manche versehen mit Schleifen von Wettbewerben, allesamt in der unteren rechten Ecke signiert: Elizabeth D.
Ihre Eintragungen waren mal verärgert, mal distanziert, dann wieder kühl und unabhängig. Sie entschied sich für Psychologie im Hauptfach und spann Theorien darüber, warum Menschen sich so und nicht anders verhielten. Regelmäßig schrieb sie über ihre Mutter und machte sich Gedanken über deren Verschlossenheit und Fixierung auf Selbsthilfe-Ratgeber. Ihren Vater erwähnte sie nur hin und wieder. Er kam gelegentlich in die Stadt und ging mit ihr essen. Einmal besuchte er eine ihrer Ausstellungen, doch sie tobte vor Wut, als er sagte, dass ihre Bilder ihn an van Gogh erinnerten. ( Mit Sicherheit das Einzige, was ihm einfiel, weil er der einzige MALER war,
Weitere Kostenlose Bücher