Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
Vom Netzwerk:
China kamen. (Die ersten beiden Phasen von Missionstätigkeiten in China waren während der Tang-Dynastie, 618 – 907  n.Chr., und im dreizehnten Jahrhundert.) Man nannte sie »Kinderhäuser« oder »Evangeliumsanstalten«. Das Erste wurde 1896 zum Andenken an die Missionsschwester Fu-ji-li von der protestantischen angloamerikanischen Mission in der Church of the Four Saints in der Stadt Chengdu, Provinz Sichuan, gegründet. (»Jili Fu« oder Jenny Ford, eine Kanadierin, die mit der Women’s Missionary Society nach Chengdu kam und dort 1897 verstarb.) Es folgten andere protestantische Waisenheime in Chongqing, ebenfalls in Sichuan, sowie in den Provinzen Fujian und Zhejiang. Es gab auch katholische Waisenheime, deren Zahl sich bereits 1920 auf über einhundertfünfzig belief.
    Angeblich soll es in der Vergangenheit auch staatliche Waisenhäuser gegeben haben, aber da ich dafür keinerlei Belege finden konnte, gehört diese Behauptung wohl eher in den Bereich der Legenden. Vor 1990 waren sämtliche chinesischen Waisenhäuser, die ich mit eigenen Augen sah oder von denen mir berichtet wurde, von der Gesellschaft vergessene Einrichtungen. Das Land und seine Regierung interessierten sich einfach nicht dafür. Viele Offizielle betrachteten sie als nationale Schande, während die Bevölkerung sie für menschliche Müllhalden hielt. Eine Frage nach dem örtlichen Waisenhaus wurde meist mit Erstaunen quittiert. Niemand sprach es offen aus, aber in den Reaktionen schwang stets mit: Wieso wollen Sie denn da rumschnüffeln? Oder: Die Mädchen da sind doch alle wurzellose Waisen, lassen Sie die Finger davon!
    Während das übrige China fast ein Jahrhundert lang vom Krieg zerrissen und von gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen erschüttert wurde, führten Waisenhäuser ein fast vollkommenes Schattendasein. Erst mit dem Wiederaufleben eines (staatlich geförderten) Gemeinsinns in den 1990 ern wurde der Öffentlichkeit bewusst, wie dramatisch sich die Zahl dieser Einrichtungen erhöht hatte.
    Gegen Ende der 1980 er Jahre hatte ich schon einige Waisenhäuser besichtigt, und sie waren ausnahmslos unerträglich deprimierend. Damals bestand ein sogenanntes Waisenhaus praktisch nur aus einem einzigen, nicht besonders großen Raum, in dem nicht nur die Kinder schliefen, sondern auch ein paar Mitarbeiter, und der obendrein als Büro diente. Bestenfalls war vielleicht noch eine kleine Küche dabei. Es gab keine Innentoilette, keinen Garten, und es fehlte an der grundlegendsten Ausstattung zur Kinderpflege. Auch spielen konnten die Kinder nirgendwo. Doch in den 1990 ern, als die Reformen endlich auch in diese vergessenen Winkel der chinesischen Gesellschaft vordrangen, wurden Waisenhäuser von neureichen Bürgern mit Spenden unterstützt. (Zuvor hatte von der staatlichen Führungsschicht bis hin zu einfachen Leuten in Kleinstädten und auf dem Land praktisch niemand Nahrungsmittel oder Geld erübrigt, um damit Waisenkindern zu helfen, die wahrscheinlich ohnehin verhungern würden. Und die Armen hatten genug damit zu tun, das eigene Überleben zu sichern. Da war Wohltätigkeit ausgeschlossen.)
    Bis dato waren Milchprodukte in ganz China stets Mangelware gewesen, und Waisenhäuser hatten andere Mittel und Wege finden müssen, um die Kinder zu ernähren: In Nordchina gab man ihnen Weizenmehlbrei, im Süden Reisschleimsuppe. Oft trieb das endlose Wimmern der hungrigen Babys die Waisenhausmitarbeiter dazu, sie in den nächsten Ort zu bringen und dort nach einer barmherzigen Mutter zu suchen, die gerade niedergekommen war und bereit war, die Babys kurz an die Brust zu nehmen.
    Ich gewann den Eindruck, dass solche Waisenhäuser bis in die 1990 er Jahre fast nur Geld für Kleidung und Bettzeug hatten. Die Babys lagen dicht an dicht auf einem langen Holzbock oder wurden zu zweit oder zu dritt in Körbe gesteckt, die auf dem Land zur Lagerung von Trockengütern verwendet wurden. In besseren Waisenhäusern stand immerhin ein Gemüsekorb pro Baby zur Verfügung. Die meisten Neugeborenen wurden damals in etwas gewickelt, das sich »Kerzensack« nannte, das heißt, ihre Arme und Beine wurden mit weichen Stoffen aus Baumwolle oder Seide eng am Körper anliegend festgebunden. Die unteren Gliedmaßen waren komplett umschlossen, und nur das Gesicht war frei, wobei der Kopf hinten und seitlich von einem Zipfel der Umhüllung geschützt wurde, der spitz am Hinterkopf hochstand. Wenn man den gewickelten Säugling aufrecht hielt, erinnerte er an

Weitere Kostenlose Bücher