Wolkentöchter
eine Kerze mit einer Flamme an der Spitze.
Ich weiß nicht, ob der »Kerzensack« wegen seiner Form so genannt wurde, aber ich weiß, dass er eine Wickelmethode war, die sich viele Nationalitäten in China aneigneten, vor allem für die Nacht und im Winter. Inzwischen habe ich in anderen Teilen der Welt ähnliche Wickelmethoden gesehen und auch ähnliche Erklärungen dafür gehört: damit das Neugeborene »gesund und schön heranwächst«. In China bedeutet »gesund und schön heranwachsen« auch »den Hinterkopf flach schlafen«, weil wir einen abgeflachten Hinterkopf schön finden und versuchen, eine »dümmlich vorspringende Stirn und einen löffelförmigen Hinterkopf« tunlichst zu vermeiden.
Die Waisenhäuser waren jedoch personell extrem unterbesetzt, und die Beschäftigten hatten weder die Zeit noch das Geld, sich darum zu kümmern, dass ihre Schützlinge gesund heranwuchsen, von schön gar nicht erst zu reden. Da beispielsweise Bettzeug knapp war, mussten sich im Winter mehrere Babys eine kleine Steppdecke teilen. Im Sommer schliefen sie nackt, ohne jeden Schutz vor Moskitos und anderen stechenden Insekten. Als ich versuchte, mehr über die Waisenkinder zu erfahren, waren weder die Zentralregierung noch die einfachen, für Waisenhäuser zuständigen Beamten in der Lage, mir irgendwelche schriftliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Leider sind kaum urkundliche Belege über das China des zwanzigsten Jahrhunderts vorhanden. (In meinem vorangegangenen Buch
Gerettete Worte
habe ich versucht, die Gründe für dieses Phänomen zu erläutern.)
In den 1990 ern jedoch, nachdem die Regierung ihre Haltung zu Adoptionen geändert hatte und mehr und mehr westliche Familien Adoptionen beantragten, wurden chinesische Waisenhäuser dem Vergessen entrissen und nahmen eine zunehmend zentrale Position in der chinesischen Außenpolitik ein. In kürzester Zeit wurde das Betreiben von Waisenhäusern zum Bestandteil des Wirtschaftsbooms, und ihre Zahl stieg explosionsartig an. Meiner Ansicht nach gibt es jedoch zwei Dinge in China, deren Ausbau und Entwicklung nicht wünschenswert waren: erstens Gefängnisse und zweitens Waisenhäuser. Es wäre dringend notwendig gewesen, sie zu reformieren und zu verbessern, nicht aber, sie als Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen. Eine höhere Anzahl von Gefängnissen und Waisenhäusern ist für kein Land eine Erfolgsgeschichte – im Gegenteil, es ist eine nationale Tragödie.
Um es klar zu sagen: Bis heute habe ich noch kein einziges chinesisches Waisenhaus betreten, in dem ich den Eindruck hatte, dass die Kinder so gerecht und fair behandelt wurden, wie sie es verdienten. Noch 2007 , nachdem die Mothers’ Bridge of Love die medizinische Betreuung etlicher Kinder finanziert hatte und ich sie nach ihrer Genesung besuchen wollte, wurde ich Zeugin des unbarmherzigen Drucks, unter dem Waisenhäuser standen. In diesem speziellen Fall planten wir einen Höflichkeitsbesuch in einem Waisenhaus, das wir seit Jahren unterstützten und mit dessen Personal wir zusammengearbeitet hatten, aber wir wurden trotzdem abgewiesen. Der Grund dafür war, dass ich aus dem Ausland kam und die Leute fürchteten, wir wollten für irgendwelche westlichen Medien chinesische Missstände aufdecken. Die Behörden hatten bereits eine Einrichtung mit harten Strafen belegt, nachdem eine amerikanische Adoptivfamilie heimlich das nähere Umfeld des Waisenhauses gefilmt und das Videomaterial dann ins Internet gestellt hatte. Für die Gemeindeverwaltung war das der Beweis dafür, dass »die Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen des Waisenhauses unzureichend waren und die Armut der Dorfbewohner für einen kapitalistischen Angriff auf den Sozialismus missbraucht worden war«.
Obgleich sich dieser Vorfall nicht im Zusammenhang mit »unserem« Waisenhaus ereignet hatte, waren diejenigen, die Kontakte zur Außenwelt pflegten, gewarnt worden, was dazu führte, dass Wohltätigkeitseinrichtungen politisch sensibel reagierten und schwerer zugänglich wurden als Fort Knox. Ich verstand durchaus die Angst von kleinen Beamten und Waisenhausleitern, die es mit einem System zu tun hatten, in dem Recht und Gesetz unsicher waren und sich die Grundregeln unaufhörlich veränderten. Sie waren kaum fachlich ausgebildet, wie sollten sie da in der Lage sein, Entwicklungshilfe und Gelder von ausländischen Spendern zu verwalten und ein »korrektes Bild nach außen« zu wahren? Ihre Entscheidungen basierten
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