Wolkentöchter
jedenfalls nicht auf gesunder Logik, sondern auf (für sie) lebenswichtigen Überlegungen wie: Was werden meine Vorgesetzten davon halten? Und: Kann ich deswegen meinen Job verlieren?
Vor den 1990 er Jahren gab es in »Rotchina« drei Arten von Beschäftigten in Waisenhäusern: diejenigen, die selbst im Waisenhaus aufgewachsen waren, Helfer aus örtlichen buddhistischen Tempeln und alleinstehende Frauen, vor allem Witwen. Männliches Personal gab es kaum. Die weitaus meisten Beschäftigten stammten aus Verhältnissen, an die sie sich nicht gern erinnerten, und führten ein hoffnungsloses Dasein, das sich darin erschöpfte, Waisenkinder aufzunehmen, großzuziehen oder zu beerdigen. Ihr einziges Interesse war es, dafür zu sorgen, dass die Kinder bestimmte Entwicklungsstufen erreichten:
drehen mit drei
(die Babys sollten sich mit drei Monaten umdrehen können),
sitzen mit sechs
(mit sechs Monaten sollten sie aufrecht sitzen können),
krabbeln mit acht …
und so weiter. Ihr Hauptziel war es, für jedes Kind eine Familie zu finden; wie es dem Kind langfristig erging und was mal aus ihm werden würde, interessierte sie nicht. Wieder und wieder geschah es, dass ich an der Tür mit den Worten abgewimmelt wurde: »Erzählen Sie in Ihren Sendungen bloß nichts über diese Mädchen, die keine Familien und keine Mütter haben!«
Schon immer hatte ich den Wunsch gehabt, jemanden zu interviewen, der mal eine leitende Position in einem Waisenhaus hatte, um die wenigen Informationsschnipsel überprüfen zu können, die ich im Laufe von zig Jahren gesammelt hatte, doch das Glück war mir nicht beschieden. Aber vielleicht erhörte der liebe Gott ja doch meine Gebete, denn im Frühjahr 2007 , als ich mich wieder in China aufhielt, um einige letzte Fakten für
Gerettete Worte
zu prüfen, wurde ich schließlich für meine Hartnäckigkeit belohnt. Auf dem Rückweg nach Großbritannien machte ich Station in Shanghai, wo ich zufällig eine ehemalige Waisenhausmitarbeiterin kennenlernte, die inzwischen in Rente war.
Ich begegnete ihr in einem kleinen Nudelrestaurant an der Huaihai Central Road. Sie saß allein an einem Tisch – an jedem anderen saßen mindestens zwei Leute –, und nachdem der Kellner meine Bestellung entgegengenommen hatte, erklärte er, ich würde mich zu ihr setzen müssen. Sie wirkte, als wäre sie dem alten Shanghai entsprungen, völlig fehl am Platz in der riesigen, modernen Stadt. Ich schätzte sie auf ein Alter zwischen sechzig und siebzig; ihr weißes Haar war zu einem traditionellen Knoten gebunden, eine Frisur, wie sie heutzutage nur noch einige Tänzerinnen tragen und die damals schon lange als unzeitgemäß galt. Ich weiß noch, dass sie eine bronzefarbene Jacke aus Leinen und Satin trug, die vorne altmodisch schräg geknöpft war, und dazu eine schwarze Jacquardhose. Mir fielen vor allem ihre Schuhe auf, weil ich diese Art von bestickten Stoffschuhen mit hübschem Muster und weichen, bequemen Gummisohlen schon immer gemocht hatte. Damals gab es bei diesen Schuhen erhebliche Preisunterschiede, je nach Qualität von Obermaterial und Sohle, und sie konnten von zehn bis dreihundert Yuan kosten. Vor ihr auf dem Tisch standen eine Schale Yangchun-Nudeln und zwei Beilagen, die typisch für Shanghai sind. Gelbfisch und Sojabohnen mariniert in Wein, Honig und Salz (wir nennen das »betrunkene« Beilagen). Als ich mich zu ihr gesellte, war sie dabei, ihre Nudeln einzeln in den Mund zu saugen – ja, ehrlich! Immer nur eine einzelne Nudel. Ich hatte bisher nur meinen Sohn Panpan so kindlich mit Essen spielen sehen, aber noch nie einen Erwachsenen.
Als die alte Dame merkte, dass ich sie beobachtete, wurde sie leicht verlegen und legte rasch die Nudel, die sie mit ihren Essstäbchen hielt, zurück in die Schale. Dabei murmelte sie: »Es ist lange her, dass ich solche Nudeln gegessen hab.« Ihr Dialekt klang nach Südchina, aber ich hätte nicht genau sagen können, woher sie kam. Nun wurde ich verlegen und sagte: »Verzeihung, ich wollte Sie nicht stören. Ich hab bloß gedacht, ich könnte mir auch so etwas bestellen wie das, was Sie da haben. Auch für mich ist es lang her, dass ich ›betrunkenes‹ Gemüse gegessen hab.«
»Dann wohnen Sie also nicht in Shanghai?« Sie schaute zu den anderen Gästen hinüber, als würde sie mich mit ihnen vergleichen. Meine Kleidung hob sich offensichtlich von den Markenklamotten der Shanghaianer ab und wäre von ihnen sicherlich als provinziell eingestuft
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