Wolkentöchter
ging er wieder.
»Xinran, Sie haben gesagt, Sie möchten Ihre Mutter so vieles fragen«, fuhr sie fort. »Auf diesem Video hat meine Tochter auch eine Frage gestellt: ›Ich möchte wissen, warum mich meine chinesische Mommy nicht gewollt hat. War ich ein ungezogenes Mädchen?‹« Und wieder musste sie schluchzen.
Ich konnte mich kaum zurückhalten. Ich wollte ihr dieselbe Frage stellen. »Warum? Warum?« Wie ›zivilisiert‹ waren wir denn? Welchen Sinn hatten Bildung und Arbeit eigentlich? All die Mühsal, um im Beruf zu bestehen und erfolgreich zu sein, und das um welchen Preis? Warum hatte unsere moderne Zivilisation den uralten blinden, animalischen Instinkt, unsere Jungen zu schützen, einfach abgeschafft? Meine Bücher sind weltweit in vielen verschiedenen Sprachen erschienen, und ich habe E-Mails und Videoaufnahmen von Adoptivfamilien aus der ganzen Welt erhalten. Die am häufigsten gestellte Frage ist genau die: »Warum hat meine chinesische Mommy mich nicht gewollt?«
Die Grüne Mary sah mir meine Empörung an und sagte mit dünner Stimme: »Viele denken, ich hätte meine Tochter zu Verwandten gegeben, um mich ganz der Adoptionsarbeit widmen zu können. Aber dass meine Tochter und andere kleine Mädchen wie sie der Grund sind, warum ich wie verrückt arbeite, das ahnt keiner.«
»Haben andere Eltern in anderen Waisenhäusern das Gleiche gemacht wie Sie?«, fragte ich, erwartete aber eigentlich ein Nein als Antwort.
»Wollen Sie die Wahrheit hören?« Sie sah mich beklommen an.
»Aber ja.« Ich versuchte, möglichst viel Nachdruck in meinen Blick zu legen.
»Das ist doch wirklich nur ein kleiner Teil Ihrer Recherchen, oder? Ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen, wenn ich es Ihnen erzähle … Ja, viele Waisenhausmitarbeiter helfen ihren Verwandten auf dem Land dabei, ihre Babys ›auszusetzen‹, und wickeln dann die Adoption ab«, sagte sie stockend.
»Menschen, die in Waisenhäusern arbeiten, helfen anderen Menschen, ihre Babys wegzugeben? Das ist gegen die Natur! Sie sagen also, dass Menschen wie Sie nicht nur nichts dagegen tun, sondern es sogar steuern? Ist das inzwischen die Norm?« Ich fand, dass sie ihren eigenen Anteil daran nicht leugnen sollte.
Sie brauste auf. »Was ist denn Natur? Was ist Mutterliebe? Was heißt schon Norm? Woran orientiert sich die Norm? Waren Sie schon mal in diesen Dörfern? Haben Sie gesehen, wie erbärmlich es den Mädchen dort ergeht? Sie überleben überhaupt nur mit viel Glück. Ich beharre nicht auf der ›Norm‹, wenn diese Mädchen in westlichen Familien ein glückliches, gesundes Leben führen können und eine gute Ausbildung bekommen … Das ist doch unendlich viel besser, als wenn sie dasselbe traurige Schicksal erleiden wie ihre Mütter oder ein noch schlimmeres. Sie sind emotional und körperlich tausendmal besser dran, wenn sie von Ausländern adoptiert werden.«
»Aber das hinterlässt ein schwarzes Loch im Herzen der Mutter und offene Fragen in dem der Tochter …«
Sie fiel mir ins Wort: »Chinesinnen sind die selbstlosesten Frauen der Welt. Sie würden alles für ihren Mann und ihre Kinder tun, Schmerzen erdulden, Blut und Tränen vergießen, um für das Wohlergehen ihrer Liebsten zu sorgen. Ihr einziger Trost ist, dass ihre Töchter eines Tages verstehen werden, wie sehr ihre Mütter sie geliebt haben und dass sie diese Liebe mit einem endlosen Strom der Tränen bezahlt haben.«
»Glauben Sie wirklich, diese Töchter können verstehen, wie viel ihre Mütter gegeben haben und was es sie gekostet hat?«
»Sie werden ganz sicher begreifen, was die Liebe einer Mutter ist, wenn sie selbst die Schmerzen von Schwangerschaft und Geburt erleben und Mütter werden.«
»Und das Stillen zu jeder Tages- und Nachtzeit, das Wickeln und das In-den-Schlaf-Wiegen, das alles wird ihnen eine Ahnung von den Entbehrungen vermitteln, die ihre leiblichen Eltern durchgemacht haben«, fügte ich hinzu.
»Genau. Deshalb sage ich den Leuten, die im Adoptionssystem arbeiten, auch immer, dass chinesische Mütter ihre Babys nie als ihren ureigenen Besitz betrachten sollten. Die leiblichen Eltern haben diese Kinder in die Welt gesetzt, aber ihr gegenwärtiges Leben verdanken die Kinder ihren Adoptiveltern.«
Nachdem ich mich an jenem Tag von der Grünen Mary verabschiedet hatte, wanderten meine Gedanken zurück zur Roten Mary. Was hätte sie wohl gesagt, wenn sie die Geschichte gehört hätte? Eine der beiden war als Baby ausgesetzt worden, die andere
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