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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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schloss sich hinter meiner Tochter und ihrer neuen Familie.«
    Die Grüne Mary sank erschöpft im Sofa zurück und fragte tonlos: »Waren wir sehr grausam?«
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wollte sie anschreien, wollte um ihr kleines Mädchen weinen. Schließlich sagte ich: »Ich bin mir absolut, absolut sicher, dass Sie und Ihr Mann danach sehr gelitten haben.« Am liebsten hätte ich das Wort »absolut« noch öfter wiederholt.
    »Als wir wieder zu Hause waren, wurde uns erst richtig klar, was wir getan hatten. Wir kamen wieder zur Besinnung, aber der Alptraum hatte gerade erst begonnen. Die Stille in der Wohnung war ganz anders als vor der Geburt unserer Kleinen. Fotos von ihr, ihre Kleidung, ihr Spielzeug – alles zusammen lag auf einem Haufen. Mir war, als würden mir die ganzen Sachen ein großes Loch ins Herz bohren. Sie fehlte mir so schrecklich. Und dann, ohne recht zu wissen, was wir taten, haben wir uns am Abend in das Hotel geschlichen, in dem das Paar wohnte. Wir hörten unsere Kleine furchtbar weinen, als wir das Stockwerk betraten, in dem das Zimmer war. Sie schrie ›Ma-ma, Ma-ma‹, und sie schluchzte herzzerreißend. So hatte ich sie noch nie weinen hören. Mein Mann fürchtete, ich würde ins Zimmer stürmen, um sie zurückzuholen, und hielt mich vorsichtshalber am Arm fest. Und ja, ich hätte es getan, wenn er mich nicht zurückgehalten hätte. Wir gingen erst, als der Sicherheitsdienst seine Runde drehte und wissen wollte, was wir da machten.
    Wir aßen nicht zu Abend, als wir nach Hause kamen, wir saßen einfach nur reglos auf dem Sofa. Die ganze Nacht. Gegen acht Uhr am nächsten Morgen sagte mein Mann, er würde sich eine Zeitung kaufen gehen. Ich sah ihm hinterher, und zum ersten Mal hasste ich ihn. Wie konnte er jetzt Zeitung lesen wollen? Während er fort war, nahm ich ein Taxi zum Hotel und setzte mich in dem Café dort in eine Ecke, wartete und hoffte, dass ich sie sehen würde.
    Es war fast Mittag, als das Paar mit meiner Tochter herunterkam. Sie schaute in meine Richtung, war aber zu weit weg, um mich zu erkennen. Sie starrte mit ausdrucksloser Miene geradeaus, ins Ungewisse … Dann wurde sie zu einem Reisebus getragen. Mir pochte das Herz bis zum Hals, aber es nützte nichts, meine Beine versagten den Dienst. Schließlich gelang es mir aufzustehen, und ich ging auf den Reisebus zu, aber plötzlich war mein Mann neben mir und hielt mich fest. Der Bus fuhr langsam davon – und ich sank halb ohnmächtig zu Boden. Ein Mann vom Sicherheitsdienst des Hotels kam und erkundigte sich höflich, ob es mir nicht gutgehe und in welcher Beziehung wir zueinander stünden. Er sagte, mein Mann habe sich seit etwa acht Uhr morgens hier herumgetrieben.«
    Ich begriff. »Er war gar nicht gegangen, um eine Zeitung zu kaufen, sondern um Ihre Tochter noch einmal zu sehen.«
    »Ja. Und von dem Tag an hat er bis zu unserer Scheidung kein Wort mehr mit mir geredet. Wir haben nur noch über eine kleine Tafel in der Küche miteinander kommuniziert. Er warf mir vor, kaltherzig und keine richtige Mutter zu sein. Obwohl er unserem Plan doch zugestimmt hatte. Wir haben die Entscheidung gemeinsam getroffen. Aber was bringt es, das alles noch mal durchzuhecheln? Wir wussten beide, dass es zwischen uns aus war, nachdem wie unsere Tochter zur Adoption gegeben hatten.
    Es vergeht keine Minute, ohne dass ich an sie denke. Manchmal, wenn ich einen Bus losfahren sehe, stelle ich mir vor, dass sie drin sitzt. Ich hab ihre Spielsachen neben meinem Bett und verbringe die Nächte halb schlafend, halb träumend. Wenn ich nicht so wahnsinnig viel Arbeit hätte, würde es mich verrückt machen. Es tut zu weh, an sie zu denken – ich würde wirklich verrückt werden.«
    Ich fragte, ob sie je etwas von ihrer Tochter gehört habe.
    »Letztes Jahr haben die Eltern ein Video von ihrem fünften Geburtstag ans Waisenhaus geschickt. Die Kerzen auf der Torte brannten, sie schaute in die Kamera und sprach einen Wunsch aus: ›Ich wünsche mir, dass meine chinesische Mommy weiß, was ich für ein liebes Mädchen bin.‹« Die Stimme der Grünen Mary war tränenerstickt.
    Einer der Mönche, die in dem Restaurant bedienten, kam zu uns, vollführte die buddhistische Begrüßung – eine Verbeugung mit vor der Brust aneinandergelegten Händen – und schob einen Packen Papierservietten auf unseren Tisch. Dann sagte er leise: »Hat der bittere Hauch der Tränen Ihnen Erkenntnis gebracht?« Als wir nicht antworteten,

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