Wolkentöchter
mit verstörter Miene.
»Haben Sie sich denn nicht die Ausweise zeigen lassen? Haben Sie einfach zugesehen, wie die Leute sie wegschaffen?«
»Was für Ausweise? Die sind aufgetreten wie ganz wichtige Kader, und sie waren sehr grimmig.« Sie sah jetzt regelrecht panisch aus, und ihre Stimme zitterte.
Plötzlich wurde mir klar, dass es für diese ungebildete Frau vom Land keinen Unterschied gab zwischen plündernden Kriminellen und kleinen Staatsbeamten, die sich aufführten wie Kriminelle, also zwang ich mich, sanfter mit ihr zu reden, und gab den Versuch auf, ihr irgendwelche Informationen zu entlocken.
In den dunklen Ecken des leeren Raumes lagen ein paar zurückgelassene Spielsachen wie vergessene Waisenkinder.
Wo bist du, Kleiner Schnee? Wenn ich doch nur damals nicht diese Dienstreise gemacht hätte! Ich werde es mein Leben lang bereuen, und diese Last ist sehr viel schwerer als jeder Stein. Ich holte weiter Erkundigungen ein, bis ich 1996 endlich erfuhr, dass damals alle Waisenkinder aus der Gegend im Alter von Kleiner Schnee adoptiert worden waren. Man sagte mir, dass Kleiner Schnee höchstwahrscheinlich Adoptiveltern fand, als die erste Gruppe Amerikaner nach China kam. Viele Kinder der Region waren weggebracht und dann von Ausländern adoptiert worden. Vielleicht hatte aber auch eine chinesische Familie sie adoptiert. Das war möglich, aber wenig wahrscheinlich, da sie ja ein Mädchen war.
Im Laufe der Jahre hielt ich auf meinen vielen Reisen unwillkürlich stets Ausschau nach Kleiner Schnee, dem Mädchen mit dem Muttermal in Form einer Träne auf der Stirn, nach meiner kleinen Tochter. 2005 nahm ich an der Jahresversammlung der britischen Organisation Children Adopted From China ( CACH ) teil. Als ich die über einhundert kleinen chinesischen Mädchen vor mir sah, kam es mir so vor, als wären die Gesichtszüge von Kleiner Schnee auf jedem einzelnen dieser fröhlichen Gesichter eingeprägt. Im Oktober 2007 kam ich in San Francisco an der University of Berkeley mit einer Gruppe chinesischer Teenager zusammen, und wieder vergoss ich lautlose Tränen. Kleiner Schnee könnte darunter sein, dachte ich. Sie musste inzwischen siebzehn Jahre alt sein. Ich bat die Mädchen, sich im Kreis um mich zu setzen und abwechselnd Passagen aus meinem Buch über Mother’s Bridge of Love zu lesen. Währenddessen sah ich mir jedes junge Gesicht genau an, suchte nach einem tränenförmigen Muttermal auf der Stirn. Ich fand es nicht, aber ich verlor nicht die Hoffnung, weil ich wusste, dass meine Kleine genauso hübsch sein musste wie diese Mädchen, ganz genauso …
Manchmal kommt mir der Gedanke, dass ich von allen Müttern, die ihre Töchter verloren haben, noch am besten dran bin, weil ich den jungen Mädchen erzählen kann, was ihre chinesischen Mütter wirklich empfunden haben. Und anders als ihre leiblichen Mütter kann ich ihre Töchter als junge Frauen sehen, kann sie umarmen, so wie die Mütter das höchstwahrscheinlich nie werden tun können.
Kleiner Schnee, meine Tochter, wo immer du bist, deine Mutter sehnt sich nach dir!
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Nachwort
Zwei Briefe aus tiefstem Herzen
E he ich mich zum Schluss mit ganz persönlichen Worten an die vielen chinesischen Töchter auf der ganzen Welt wende, möchte ich hier noch den Brief einer Adoptivmutter abdrucken, die mit ihren Zeilen vieles von dem, was ich in diesem Buch sagen wollte, zusammenfasst. Nies Medema lebt in Amsterdam und ist Mutter zweier chinesischer Mädchen. Was sie im Folgenden an deren leibliche Mütter geschrieben hat, ist eine wunderbare Dankesbotschaft von einer glücklichen Mutter an zwei andere, denen weit weniger Glück beschieden war.
Liebe Mütter meiner beiden Töchter,
danke, dass Ihr unsere Töchter geboren habt. Wir sind gleichermaßen ihre Mütter. Ich habe die Ehre und die Freude, sie großziehen zu dürfen. Wir sind also drei Frauen mit zwei Töchtern. Zwei Mütter in China, eine Mutter mit zwei Töchtern in Amsterdam.
Falls Persönlichkeit und Intelligenz sich vererben, dann müsst Ihr beide intelligent, schön, klug, freundlich und gütig sein. Denn diese Eigenschaften erkenne ich in unseren Töchtern. Sie erfüllen mein Leben und das meines Mannes mit Freude. Und ich kann mir vorstellen, wie weh Euch ums Herz sein muss vor lauter Sehnsucht nach ihnen. Ich weiß nicht, ob Ihr jemanden habt, mit dem Ihr über diesen Schmerz reden könnt. Ich habe Geschichten von chinesischen Müttern gelesen, die sich nach ihren Töchtern sehnen,
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