Wolkentöchter
Hoffnungen und Wünschen für Euch einherging, hat ihr jahrelange Not und Pein verursacht.
Wir alle haben irgendetwas gehabt, das wir im Leben wirklich geliebt haben. Nicht nur unsere Freunde und die Familie, sondern auch etwas, das wir liebgewonnen haben und das uns unerwartete Freuden geschenkt hat – ein bezauberndes Musikstück, ein Buch mit einer Geschichte, die uns zutiefst berührt, der Traummann, der auf einer Parkbank neben uns sitzt. Diese magischen Momente oder wunderbaren Dinge lassen intensive Erinnerungsspuren zurück, die für immer bei uns bleiben, auch wenn das Erlebnis längst vergangen ist oder wir erwachsen geworden sind. Wenn solche einzigartigen Augenblicke der Freude uns erhalten bleiben, stellt Euch vor, wie viel mehr Ihr der Mutter bedeutet habt, die Euch neun Monate lang in sich trug. Sie wird Euch niemals vergessen, ganz gleich, warum oder wie Ihr von ihr getrennt wurdet. Du, ihre Tochter, warst Teil von ihr, mit ihr verbunden, auf sie angewiesen … das Wunder, das sie geboren hat.
Durchaus möglich, dass Deine leibliche Mutter eine Bäuerin war, die das arme Bergdorf, in dem sie lebte, nie verlassen hat und nicht wusste, ob ein Buch von vorne oder von hinten gelesen wird. Trotzdem wird sie wie das Mädchen vom Land in Kapitel 2 oder wie Kumei, die Tellerwäscherin, nie vergessen haben, wie Du Dich in ihrem Bauch bewegt hast und wie viel Schmerz es sie gekostet hat, Dich zur Welt zu bringen.
Sie könnte natürlich auch eine lebensfrohe, aber naive junge Frau gewesen sein, die noch nichts vom Leben wusste und noch weniger darüber, wie Männer und Frauen zusammen Leben zeugen. Wahrscheinlich hat sie es wie Waiter in Kapitel 1 nicht mal gemerkt, als Du in ihr Wurzeln schlugst. Aber sie war mutig genug, gesellschaftliche Ablehnung auf sich zu nehmen und ihre eigene Zukunft zu opfern, um Dir das Leben zu schenken. Während Du in ihr herangewachsen bist, gabst Du ihr die Kraft, Mutter zu sein und das Leben zu begreifen, und deshalb wird ihre Erinnerung an Dich niemals verblassen.
Oder vielleicht war Deine leibliche Mutter eine brave, tugendhafte, traditionelle Frau, der ihre Familie über alles ging. Aber sie war gefangen zwischen der Ein-Kind-Politik und dem Zwang, einen Sohn zu gebären, um den Fortbestand der Sippe zu sichern. Wie die »Partisaneneltern« des kleinen Mädchens, das mit mir »Orchideenfinger« gespielt hat. Sie steckten in einem furchtbaren Dilemma, doch Deine Existenz belegt, dass sie ihre Furcht überwanden. Hätten sie Dich nicht beschützt, hättest Du nicht mal einen Namen, und Dein Leben wäre in Minutenschnelle vorbei gewesen. Ohne sie hättest Du nie die Freude empfunden, wie sie Dir Sonnenschein, Blumen, Schulfreunde und Familie heute spenden.
Möglicherweise wird Deine leibliche Mutter auch Tag für Tag von ihrem Gewissen gequält, von Bekannten und Verwandten als kaltherzig verurteilt wie die Grüne Mary. Doch in Wahrheit ist die Tatsache, dass sie ihrem Herzen diesen unermesslichen Schmerz zufügte und Dein zukünftiges Glück über alles stellte, der Grund dafür, dass du heute das Leben in Deiner Adoptivfamilie genießen kannst und Gelegenheit hast, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der sich zwei unterschiedliche Kulturen begegnen.
Mag sein, dass sie Deine Geburt mit dem Leben bezahlte wie die Mutter von Kleiner Schnee. Aber ich glaube, sie hat Dich nie verlassen; sie wurde nur Teil der Berge und der Ozeane, Teil des Windes, der Dein Gesicht liebkost, sie hilft Dir, den Wechsel der Jahreszeiten zu spüren. Nachts bringt sie Dir mit dem Mondlicht Frieden und tagsüber mit dem Sonnenlicht die satten Formen und Farben des Lebens.
Ihr seht also, Ihr seid heute deshalb gesund und munter, weil Eure Mütter sich gegen gesellschaftliche Konventionen wandten, gegen Unterdrückung und Unwissenheit, um Euch das Leben zu schenken. Zeigt Euch erkenntlich, indem Ihr Euer Leben schätzt! Dankt ihnen, indem Ihr Euch selbst verwirklicht!
Ich habe ein schlichtes Gedicht für Kleiner Schnee geschrieben. In meinem Herzen habe ich für sie viele Gedichte verfasst, aber ich habe sie ihr nie schicken können. Als ich den Film
Titanic
zum ersten Mal sah, bewirkten die Zeilen aus Céline Dions Titelsong »You’re here in my heart/And my heart will go on and on«, dass ich noch wie erstarrt auf meinem Platz saß, nachdem alle anderen das Kino bereits verlassen hatten. Irgendwie erwachte durch diesen Song meine ganze Sehnsucht nach Kleiner Schnee erneut zum Leben und
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