Wolkentöchter
von Kleiner Schnee trennen musste, konnte ich keine Nacht mehr schlafen und sah zusehends verhärmt und unglücklich aus. In den rund drei Monaten, die die Kleine bei uns gewesen war, hatte ihr Glück in meinen Händen gelegen. Sie vertraute mir so, wie jedes Kind seiner Mutter vertraut.
Einen Tag bevor wir Kleiner Schnee abgeben mussten, drehte ich die Heizung auf, damit es in der Wohnung mollig warm wurde. Dann zog ich Xue’r nacheinander die Kleidungsstücke an, die ich ihr für den kommenden Sommer, Herbst, Winter und Frühling gekauft hatte, und zwar zum Hineinwachsen in unterschiedlichen Größen. So ulkig unsere drei Monate alte Kleine in ihren Sommersachen (die für ein acht Monate altes Baby gedacht waren) und ihren Wintersachen (für zwölf Monate) dann auch aussah, der Anblick entlockte weder der
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noch mir ein Lächeln. Wir kämpften mit den Tränen, während wir uns bei jedem Kleidungsstück vorstellten, wie das Kind darin aussehen würde, wenn es erst größer wäre. Dann packten wir bis spät in der Nacht seine Sachen zusammen.
Am nächsten Tag brachten wir alle zusammen Kleiner Schnee zum Krankenhaus. Ich tröstete mich und die
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damit, dass wir sie ja im Waisenhaus besuchen könnten und sie immer unsere Kleine bleiben würde.
Die Woche danach zog sich quälend langsam dahin, bis es mir endlich gelang, mich loszueisen und Kleiner Schnee zu besuchen. Ich traute mich nicht, irgendwem zu erzählen, wo ich hinwollte. Ich suchte fast drei Stunden lang – in einer Stadt, in der ständig und überall neu gebaut wurde –, bis ich das Waisenhaus fand, das nicht weit vom Stadtzentrum entfernt lag. Sein Anblick machte mich fassungslos: Diese kümmerliche Baracke aus Ziegeln und Holz sollte ein Waisenhaus sein? Eine alte Frau, die dabei war, vor der niedrigen Holztür ein Feuer zu machen, winkte mich stumm hinein. Die Tür war ramponiert, dahinter ein einziger Raum, der nicht besonders groß war – rechter Hand ein Herd, in einer Ecke ein paar Schüsseln, Essstäbchen und Küchenutensilien, an der Wand gegenüber der Tür eine kleine Schulbank und daneben ein schmales Bett für einen Erwachsenen. Eingebaut in die linke Ecke war ein Regal aus Holzlatten mit Zwischenräumen wie Schubladen, in denen die Babys lagen. Das kleinste hatte noch ein bisschen Bewegungsfreiheit, aber die größeren stießen mit Kopf und Füßen an die Wand und an die Vorderkante des Regals. Insgesamt waren es neun, und fast alle waren mit den Anziehsachen von Kleiner Schnee bekleidet.
Mir stockte vor Entsetzen der Atem. War meine Kleine auch dabei? Und dann sah ich sie. Erst eine Woche war vergangen, aber sie war merklich dünner geworden. Ihr Gesichtchen war blass und ihr lebhaftes Mienenspiel verschwunden. Sie war wohl zu hungrig, um kräftig zu strampeln. Sie erkannte mich und streckte die kleinen Arme nach mir aus, als wollte sie möglichst schnell fort von hier. Ich war völlig geschockt. Ich nahm sie in die Arme und brach in Tränen aus, die nicht mehr versiegen wollten. Natürlich machte ich mit meinem Geschluchze den anderen Babys Angst, die daraufhin alle wie zur Untermalung in lautes Weinen ausbrachen.
Der Lärm lockte die alte Pflegerin herein, die sich als Mutter Tang vorstellte. Sie musste sich selbst Tränen aus den Augen wischen, während sie mir folgende Erklärung gab:
»Wir können nichts machen. Der Staat hat kein Geld, und Spenden bekommen wir auch keine. Es ist schon schwer genug, die Kinder überhaupt am Leben zu erhalten. Zum Glück hatten wir die Sachen, die Sie der kleinen Xue’r mitgegeben haben, so konnten wir auch die anderen Babys warm anziehen. Ein Kohlefeuer möchte ich hier im Raum lieber nicht machen, weil der Rauch die Kleinen krank machen könnte, aber wie es jetzt aussieht, wird die Kälte sie umbringen.«
»Was ist mit der Kommunalverwaltung? Hat die denn zu Neujahr keine Delegation hergeschickt?« Mein journalistischer Instinkt meldete sich.
»Die haben gesagt, sie würden Leute schicken, aber dann ist irgendwas Wichtigeres dazwischenkommen und der Besuch ins Wasser gefallen. Die Beamtin, die die Nachricht überbracht hat, meinte, das Gebäude hier würde bald abgerissen und das Waisenhaus verlegt, und danach würde alles besser werden. Aber seitdem war niemand mehr hier außer dem Lohnbuchhalter am Monatsanfang.« Mutter Tang begann, den Reisschleim für die Kinder zu verteilen.
»Haben Sie sich denn nicht beschwert?« Ich versuchte immer, aus anderen Leuten Journalisten zu
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