Wolkentöchter
machen, weil meiner Ansicht nach jeder die Aufgabe hatte, den Behörden mitzuteilen, was wirklich los war.
»Bei wem denn? Vorher hatten wir jemanden, der sich gut ausdrücken und Briefe schreiben konnte, aber inzwischen ist aus dem Waisenhaus das reinste Geschäft geworden. Keiner will mehr hier arbeiten. Nur ich und eine Frau vom Land sind noch übrig. Sie ist gerade einkaufen. Ich bitte Sie, schauen Sie sich an, was der Hunger mit den Babys macht! Wir bekommen einfach nicht genug Nahrung für sie. Sie nuckeln mit aller Kraft an der Flasche und lassen nicht los, ehe sie den allerletzten Tropfen rausgesaugt haben.«
»Kommen die Verwandten die Kinder besuchen?« Ich holte hastig das Milchpulver, das ich mitgebracht hatte, aus meiner Tasche.
»Wie wunderbar!«, rief sie entzückt, ehe sie fortfuhr: »Diese Mädchen können von Glück sagen, dass Kleiner Schnee hier ist. Es sind Waisenkinder – wer soll sie besuchen kommen? Die Familien können sie gar nicht schnell genug loswerden. Wenn mal jemand kommt, dann nur, um zu fragen, ob wir auch Jungen haben. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die Babys hier alle Mädchen sind? Das macht uns wirklich Sorgen, sie werden mit jedem Tag größer, und was sollen wir mit ihnen machen …?«
»Was ist denn bisher aus ihnen geworden?« Egoistischerweise ließ ich Kleiner Schnee zuerst aus einer der Flaschen mit Babynahrung trinken.
»Ich weiß nicht«, sagte Mutter Tang, während sie ein anderes Baby fütterte. »Das Waisenhaus hier ist eine vorübergehende Notlösung, weil das alte überfüllt war. Aber die Kommunalverwaltung hatte keine Unterbringungsmöglichkeit. Ich weiß nicht, wo sie die Baracke hier herhaben. Ich hab früher in einem Kindergarten gearbeitet, bis ich in Rente gegangen bin. Dann saß ich zu Hause und hab Däumchen gedreht. Mein Mann ist vor Jahren gestorben, und die Kinder sind längst ausgeflogen. Zum Glück bin ich noch so gut beisammen, dass ich mich um die Kinder kümmern kann, die armen Kleinen. Die Frau vom Land macht die Nachtschicht, und sie ist sehr tüchtig. Sie hatte eine Tochter, die sie weggegeben hat, aber sie konnte keinen Sohn bekommen, deshalb hat ihr Mann sie rausgeschmissen. Sie kümmert sich um die Kinder hier wie um ihre eigenen Töchter. Sie ist sehr verlässlich, aber wir haben kein Geld, um ihnen Essen und Kleidung zu kaufen, sie wachsen so schnell, und die Jahreszeiten hier sind so extrem unterschiedlich. Wir kommen nicht mehr nach …«
Als ich an dem Abend meine Sendung beendet hatte und wieder zu Hause war, durchwühlte ich jeden Schrank und jede Schublade, holte jedes einzelne Kleidungsstück von Panpan heraus, die leichten Sommersachen und die warme Winterkleidung. Ich behielt nur zwei Garderoben für ihn zum Wechseln. Dann packte ich bis auf eine Ersatzgarnitur unser gesamtes Bettzeug ein. Am nächsten Morgen hob ich Geld ab, sobald die Banken aufmachten (damals gab es noch keine Geldautomaten), und fuhr dann mit zwei großen Tragetaschen wieder zum Waisenhaus. Zusammen mit den beiden Frauen verteilten wir das Bettzeug auf den Holzlatten, damit die Babys es ein bisschen wärmer hatten. Dann schickte ich Mutter Tang los, um einige Milchprodukte und zwei Mobiles für die Kinder zu kaufen. Sie brauchten bunte Farben und harmonische Klänge, denen sie lauschen konnten. Wieder zurück im Sender, suchte ich mir einen dicken Stapel mit Visitenkarten von Bekannten heraus und schrieb an alle einen Brief mit der Bitte um Hilfe.
Zwei antworteten prompt und boten ihre Unterstützung an. Einer war der Leiter einer Möbelfabrik, der sich bereit erklärte, zehn Bettchen für Kinder bis zu zwölf Jahren und einen Laufstall zur Verfügung zu stellen. Der andere war Direktor einer Milchfabrik und versprach, das Waisenhaus jeden Tag mit frischer Milch zu beliefern. Seine einzige Bedingung war, dass ich die Großzügigkeit des Unternehmens in meiner Sendung erwähnte.
Ich freute mich, als ich sah, wie sich das dunkle, trostlose Waisenhaus in etwas Helleres und Freundlicheres verwandelte. Auch Mutter Tang und ihre Helferin, die bis dahin noch kein Wort gesagt hatte, blühten auf. Ich hoffte, dass all diese Verbesserungen der Helferin, die gewiss noch immer um ihre Tochter trauerte, ein wenig Trost spendeten. Ich traute mich nicht, meinen Kollegen irgendwas von den Vorgängen im Zusammenhang mit Kleiner Schnee zu erzählen. Sie wussten lediglich, dass ich jeden Tag herumhetzte und Interviews machte. Kurz darauf wurde meine Sendung bei der
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