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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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die sie nicht behalten konnten. Ich weiß nicht, was Ihr empfindet, aber ich fühle mit Euch.
    Meine älteste Tochter ist manchmal zornig auf Dich, und manchmal ist sie traurig. Sie ist jetzt sechseinhalb – was Du, die Du sie geboren hast, ja weißt –, und neulich hat sie mich gefragt, ob Du sie weggegeben hast, weil Du sie nicht liebgehabt hast. Ich habe ihr geantwortet, dass Du keine andere Möglichkeit gesehen hattest, weil Du einfach nicht für sie sorgen konntest, und dass Du Dich sonst natürlich niemals von ihr getrennt hättest.
    Manchmal, wenn ich streng mit ihr bin, vermisst sie Dich. Sie denkt, Du wärest eine bessere, gütigere, nachsichtigere Mutter gewesen. Ich sage ihr, dass das vielleicht stimmt.
    Aber Du hast sie verletzt, weißt Du. Ob ich zornig auf Dich bin, weil Du unsere Tochter am Eingang eines Bahnhofs ausgesetzt hast? Ich glaube, Du hättest gern für sie gesorgt. Und ich bin sehr glücklich, dass Du sie ausgesetzt hast. Es ist verrückt, ich weiß, aber dadurch kann ich die Freude und das Glück genießen, ihre Mutter zu sein. Und sie liebt mich, sie liebt mich so sehr, wie ich sie liebe. Und doch wäre sie lieber die Tochter von jemandem, der eher so aussieht wie sie. Sie denkt über Dich nach. Sie möchte wissen, ob sie bei Dir leben muss, falls wir herausfinden, wer Du bist. Ich sage ihr, dass sie zu uns gehört und bei uns bleiben wird. »Aber es würde meiner chinesischen Mutter furchtbar weh tun, wenn ich nicht zu ihr komme«, sagt sie. Ich sage ihr, dass das stimmt, aber dass Du auch glücklich darüber wärest, wenn Du sehen könntest, wie gut es ihr jetzt geht.
    Ich habe Tränen in den Augen, während ich das schreibe. Ich bin sehr froh, dass ich unsere Töchter großziehen und lieben kann. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich als ihre »richtige Mutter« akzeptieren konnte. Hatte ich denn wirklich das Recht, mich an den Kindern anderer Mütter zu erfreuen? Ich weiß jetzt, dass ich nicht nur das gesetzliche Recht dazu habe (das ist bloß Papierkram), sondern auch die Pflicht, ihre »wahre und wirkliche« Mutter zu sein, da Ihr nicht da seid. Ich kann nicht Euren Platz einnehmen, aber ich liebe unsere Töchter.
    Ich möchte Dir, der Mutter unserer jüngeren Tochter, etwas Lustiges über sie erzählen. Sie ist leicht wie ein Schmetterling, hat ein weiches Herz und einen scharfen Verstand. Sie ist fröhlich und witzig, einfach ein Sonnenschein. Vor einiger Zeit haben wir einmal Köchen bei der Arbeit zugesehen. Einer von ihnen sagte, Zuen solle bloß nicht auf die Idee kommen, Köchin werden zu wollen, weil das viel zu anstrengend sei. Sie antwortete ganz selbstbewusst: Nein, ich werde mal Pinguin! Ein anderes Mal sagte sie zu uns, sie wolle ein Pfau werden. Am Abend war sie ganz ärgerlich, weil sie sich noch immer nicht in einen Pfau verwandelt hatte.
    Ihr seht also, unsere Töchter sind alles, was eine Mutter sich nur wünschen kann. Wir lachen, wir reden miteinander, wir weinen, wir genießen unser gemeinsames Leben. Eine Freundin hat mich mal gefragt, ob ich darunter leide, sie nicht selbst geboren zu haben. Aber das tue ich nicht, nicht um meinetwillen. Meine Töchter gehören zu mir, wenn ich sie geboren hätte, wären sie andere Menschen geworden, und ich liebe sie so, wie sie sind. Manchmal wünsche ich es mir, um meiner Töchter willen, weil sie mit einem gewissen Schmerz leben müssen. Aber kein Mensch kommt ohne Schmerz durchs Leben. Deshalb versuche ich, für sie Wege zu finden, um mit diesem Schmerz zu leben. Ich hoffe, auch Ihr habt so einen Weg gefunden.
    Wir, mein Mann, unsere Töchter und ich, haben Euch nie gesehen, aber wir sehen Euch in unseren Töchtern. Und deshalb lieben wir Euch.
    Nies Medema
    Meine eigene Botschaft ist ebenso wie das ganze Buch für die Töchter dieser Mütter und für Töchter überall auf der Welt.
     
    Liebe Töchter,
    ich hoffe, wenn Ihr dieses Buch gelesen habt, seid Ihr der Antwort auf die Frage, die Ihr Euch schon Euer ganzes Leben lang stellt, ein Stück näher gekommen. Die Frage lautet: »Warum hat mich meine chinesische Mutter nicht gewollt?« Und es gibt keine einfache Antwort darauf. Sie lässt sich nicht ausrechnen wie eine mathematische Aufgabe, und sie ist weder in Geschichtsbüchern noch in den Büchern von Xinran oder in irgendwelchen wissenschaftlichen Arbeiten zu finden.
    Die Antwort liegt einzig und allein bei Eurer leiblichen Mutter. Sie hat Euch das Leben geschenkt, und dieses Geschenk, das mit all ihren

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