Wolkentöchter
allerersten Hörerumfrage in China zu einer der drei beliebtesten Sendungen gewählt. Das lieferte mir einen ausgezeichneten Vorwand, mich von der Arbeit davonzustehlen und Kleiner Schnee im Waisenhaus zu besuchen.
Sechs Monate vergingen so, und der erste Geburtstag von Kleiner Schnee nahte. Ich sprach mit den beiden Frauen darüber, und wir beschlossen, mit einem Fest das westliche und chinesische Neujahr sowie die Geburtstage aller Kinder und Panpans zu feiern. Wir würden ihnen neue Anziehsachen und Spielzeug kaufen, und dann würde ich ein Taxi bestellen und mit allen Kindern, den beiden Frauen und meiner
a-yi
in die Stadt fahren, um ihnen Eindrücke zu vermitteln, wie sie noch nie welche erlebt hatten.
Es war schon alles geplant, als ich verreisen musste, um für einen Beitrag über Kinderarbeit in Bergwerken zu recherchieren. Ich sollte etwa zwei Wochen fort sein, und es gab damals nur sehr wenige Telefonverbindungen und noch gar keine Handys.
Am Abend meiner Heimkehr weckte ich meinen schlafenden Panpan. Er murmelte »Mama« und schlief gleich wieder ein. Zum Glück war er zu klein, um jemanden so zu vermissen, wie Erwachsene das tun. Dann wanderten meine Gedanken zurück zu den Kinderarbeitern, die ich kennengelernt hatte. Wann würden chinesische Kinder endlich in glücklichen und liebevollen Familien mit einem ausreichenden Einkommen leben können? Ich dachte an Kleiner Schnee, die absolut nichts hatte, und ein ungutes Gefühl beschlich mich. Ich konnte es kaum erwarten, ihre süßen kleinen rosigen Wangen wiederzusehen … Ich dachte schon, diese Nacht würde nie enden.
Am nächsten Tag hatte ich frei und musste nicht zum Sender, also nahm ich Panpan mit, um Kleiner Schnee zu besuchen. Aber im Waisenhaus standen nur noch die neuen Bettchen – alle leer.
Mutter Tang war nicht da, und aus der Helferin, die einen starken Guizhou-Dialekt sprach, bekam ich nur heraus, dass die Kinder abgeholt worden waren. Zuerst dachte ich, sie wären zu einer ärztlichen Untersuchung gebracht worden oder dass Behördenmitarbeiter sich für einen Tag um sie kümmerten, doch als die Dämmerung kam und heftiger Schneefall einsetzte, waren die Kinder noch immer nicht zurück. Die Helferin beteuerte: »Ich hab’s Ihnen doch gesagt, die Kinder sind alle abgeholt worden!«
»Wohin abgeholt?« Ich war außer mir, aber mehr wollte sie nicht sagen. Und sie wusste auch nicht, wo Mutter Tang war.
Aus Angst, Panpan, der in einem der Bettchen schlief, könnte sich erkälten, brachte ich ihn nach Hause. Als meine
a-yi
die Neuigkeit erfuhr, war sie ebenso besorgt wie ich.
Im Verlauf der nächsten zwei Wochen stellte ich verzweifelte Nachforschungen an, um Mutter Tang zu finden, und ich fragte bei allen möglichen Behörden nach, was geschehen war. Letzten Endes erfuhr ich nur Folgendes: Vier Tage nach meiner Abreise hatte Mutter Tang sich ein Bein gebrochen und musste ins Krankenhaus. Niemand hatte ihr erzählt, was in ihrer Abwesenheit mit dem Waisenhaus passiert war. Eine junge Frau, frisch von der Universität, war als vorübergehender Ersatz geschickt worden, doch schon zwei Tage später tauchte ein Beamter auf und sagte, das Gebäude werde innerhalb von zwei Wochen abgerissen, um Platz für eine Schnellstraße zu machen, die bis zum Frühjahr fertiggestellt sein musste. So liefen die Dinge in China – ohne irgendwelche rechtlichen Verfahren und so schnell, wie von oben Anweisungen erteilt werden konnten. Die Kinder wurden einfach auf andere Waisenhäuser verteilt.
»Hat man den Kindern Nummern gegeben, ehe sie verteilt wurden?«, fragte ich den Beamten, der behauptete, zuständig zu sein.
Er sah mich verdutzt an. »Wozu hätten wir das tun sollen? Nein, sie haben keine Nummern bekommen. Vielleicht geschieht das ja in den Waisenhäusern, in denen sie jetzt untergebracht sind.«
»Gibt es Akten zu jedem Kind?«
Er sah mich noch verständnisloser an. »Was denn für Akten? Nein, es gibt keine. Vielleicht werden in den neuen Häusern welche angelegt.«
»Aber wie sollen sie denn später ihre leiblichen Eltern finden?«, platzte ich heraus.
Er lachte auf und sagte: »Sie machen Witze! Kein Waisenkind findet seine Mutter je wieder.«
Und damit war das Thema für ihn erledigt.
Als ich das nächste Mal zum Waisenhaus kam, waren selbst die neuen Bettchen verschwunden. Nur die Helferin, die nirgendwohin konnte, war noch da und harrte schicksalsergeben aus.
»Wer hat die Bettchen abgeholt?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie
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