Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
mittlerer Ängste zu offenbaren, um sie nicht zu verschrecken. Denn wenn sie geahnt hätte, dass mir selbst der Gang in den Keller Angstschweiß auf die Stirn trieb, hätte sie das Thema »Probleme und Herausforderungen« wahrscheinlich nie auf die Tagesordnung gesetzt.
Denn eine Herausforderung war es, als ich die Tür zum Keller öffnete und langsam die steile Treppe hinabstieg. Vielleicht hatte ich einfach zu viele Krimis gesehen, jedenfalls erschien es mir sinnvoll, mögliche Einbrecher über mein Kommen vorab zu informieren, sodass sie mir nicht in Panik eine Eisenstange auf den Kopf schlugen und Zeit genug hatten, sich zu verstecken.
»Hallo«, rief ich in einem sachlichen, nicht zu respektvollen Tonfall, »ich gehe jetzt die Treppe runter und mache das Licht an.«
Ich war froh, dass ich nie mit Jutta zusammen in den Keller gegangen war.
Ich knipste das Licht an und horchte. Da nichts Verdächtiges zu hören war, stieg ich auch die letzte Stufe hinunter.
»So«, sagte ich mehr zu mir selbst, »es ist alles in Ordnung, ich komme jetzt um die Ecke.«
Es roch nach feuchter Pappe, was vermutlich an den vielen Kartons lag. Im fahlen Glühbirnenlicht erkannte ich ausrangierte Möbel, Bücherregale, darunter auch mein altes aus der Schöneberger Einzimmerwohnung, Stühle sowie eine rustikale Sitzecke im Bauernstil, die mir beim letzten Besuch gar nicht aufgefallen war. Vielleicht stammte sie noch aus der Zeit ihrer ersten Ehe. Allerdings entsetzte es mich zu wissen, dass meine Frau früher offensichtlich eine Vorliebe für rustikale Einrichtungen gehabt haben musste. Ich fragte mich auf einmal, ob sie meinen Geschmack überhaupt teilte. Hatte sie meinen Einrichtungsstil am Ende nur zwangsweise akzeptiert, während sie sich heimlich nach Bauernmöbeln sehnte? Wäre mir auf einer rustikalen Essecke die Frage, ob ich mit meinem Leben zufrieden war, womöglich erspart geblieben?
Mein Entsetzen wuchs, als ich im hinteren Teil des Raumes eine blaue Polyesterplane mit Stangen und Heringen entdeckte, die anscheinend zu einem Zelt gehörten. Lebte ich mit einem Menschen zusammen, von dem ich Entscheidendes noch gar nicht wusste?
Mir war immer klar gewesen, dass ich eine Frau geheiratet hatte, die den größten Teil ihres Lebens ohne mich verbracht hatte. In dieser Zeit konnte viel passieren. Dinge, von denen ich nie etwas erfahren würde. Im Grunde lebte ich mit einem Menschen zusammen, von dem ich nur einen verschwindend geringen Teil kannte, und es gehörte eine Menge Mut dazu, sich von dieser Tatsache nicht von vorneherein abschrecken zu lassen. Denn so wie ich ihr beispielsweise verschwieg, dass ich mich vor Frotteehandtüchern ekelte und mir ab und an gerne vorstellte, eine ältere Dame zu sein, die Margaret Rutherford zum Verwechseln ähnlich sah, konnte auch sie mir vieles verschweigen. Womöglich hatte ich die eigentliche Herausforderung im Leben längst erfolgreich gemeistert: mit einem Menschen zu leben, dem ich hundertprozentig vertraute.
Doch als ich den Keller verlassen hatte, fühlte ich mich keineswegs männlich gereifter. Im Gegenteil. Ich hatte einen schweren Fehler gemacht. Vor mir erstand eine Frau, die bei einer deftigen Brotzeit auf ihrer rustikalen Essecke saß und im Urlaub am liebsten auf Campingplätzen zeltete.
Ich war schockiert. Einen Augenblick überlegte ich ernsthaft, ob unser Ehevertrag unter diesen Umständen überhaupt noch gültig war. Andererseits hatte sie sich nirgends verpflichtet, mir vor Vertragsabschluss mitzuteilen, ob sie ihr Abendessen lieber auf Bauern- statt Designermöbeln einnahm und welche Art Urlaub sie bevorzugte.
Ich ging hoch in mein Zimmer. Während ich noch darüber nachdachte, welche Auswirkungen meine Erkenntnisse für unser Zusammenleben haben würden, sah ich auf dem Balkon plötzlich Zoe, die mir mit der Pergamentrolle zuwinkte und andeutete, dass wir uns schnellstmöglich an dem Baum, den wir zuvor als Piratentreffpunkt vereinbart hatten, treffen sollten.
Ich zog meine Sportschuhe an und ging zur verabredeten Stelle.
»Hast du das gesehen?«, rief Zoe aufgeregt und zeigte mir die Schatzkarte.
»Eine Schatzkarte?«, fragte ich.
»Eine richtige Schatzkarte!«
Sie blickte mich forschend an. »Ist die von dir?«
Ich überlegte, ob ich ihr die Wahrheit sagen sollten. Aber vielleicht wäre sie dann enttäuscht gewesen.
»Nein«, sagte ich ernst, »so was kann man ja gar nicht fälschen.« Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei, aber Zoe schien mir
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